Fronte Vacuo: Der Zukunft auf der Spur
Die griechische Tragödie als heiliger Tempel, an dem nicht zu rütteln ist? Nicht, wenn es nach Fronte Vacuo geht. In „Tragedia: The hunt“ haucht die Performancegruppe einer alten Gattung neues Leben – und auch ein bisschen künstliche Intelligenz – ein.
Wenn das transdisziplinär arbeitende Performancekollektiv Fronte Vacuo die Gattungsbezeichnung „Tragedia“ als Titel für eine ihrer Arbeiten festlegt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass darin mit der Einheit von Zeit, Ort und Handlung sehr viel großzügiger umgegangen wird, als sich das Aristoteles vor vielen Jahrhunderten überlegt hat. „Wir werden der Struktur der griechischen Tragödie nicht folgen, sondern sie als Startpunkt verwenden und damit spielen“, gibt Andrea Familari, der die Gruppe mitbegründet hat, einen ersten Hinweis darauf, was das Publikum bei „Tragedia: The hunt“ erwarten wird.
„Ich habe im Vorfeld viel über Ausbeutung nachgedacht wie auch über die Tatsache, wie festgefahren wir als Gesellschaft sind. Wie schwer es uns fällt, zu handeln, obwohl es dringend notwendig wäre“, ergänzt Marco Donnarumma, der Fronte Vacuo gemeinsam mit Andrea Familari und Margherita Pevere ins Leben gerufen hat. „Dann kam mir der Gedanke, dass die Tragödie möglicherweise zu dieser Unfähigkeit, aktiv zu werden, beigetragen hat. Wenn man auf einen Helden wartet, der uns alle rettet, werden wir da nicht so schnell rauskommen.“
Posthumane Tragödie
„Tragedia: The hunt“ ist der fünfte Teil der Reihe „[6XXX6]“, die wiederum zur „Humane Methods“-Saga gehört. Vier Kapitel waren am Volkstheater, wo Fronte Vacuo seit der Spielzeit 2022/23 als Artists in Residence aktiv sind, bereits zu sehen. „Die langfristige Zusammenarbeit mit Künstlerkollektiven wie Fronte Vacuo ermöglicht es uns, unseren theatralen Horizont zu erweitern, voneinander zu lernen und gemeinsam zu wachsen“, erklärt Intendant Kay Voges die Vorzüge der Zusammenarbeit. Er setzt nach: „Fronte Vacuo als Künstler*innen am Haus zu haben ist ein ganz besonderes Geschenk. Ihre ‚Humane Methods‘- Saga eröffnet unserem Publikum neue, intensive und immersive Welten, die direkt das Herz unserer Zeit treffen.“
In eine solche kann man auch bei „Tragedia: The hunt“ wieder eintauchen – am 23. Mai wird die zwischen Performance,Technologie und bildender Kunst oszillierende Arbeit im Rahmen der Wiener Festwochen auf der großen Bühne des Volkstheater zu sehen sein.
Fronte Vacuo: Gemeinsam über sich selbst hinauswachsen
Roboter, Pilze, KI-Systeme und Wesen an der Schnittstelle von Natur und Technik bevölkern für zwei Spielzeiten das Wiener Volkstheater. Sie alle sind Teil der sechsteiligen Reihe „Humane Methods [6XXX6]“ von Fronte Vacuo. Weiterlesen...
Mit ihren ebenso vielseitigen wie vielschichtigen Produktionen sind Fronte Vacuo – im metaphorischen Sinne – langsam in den am Arthur-Schnitzler-Platz beheimateten Theaterorganismus hineingewachsen. Die Charaktere ihrer zwischen Dystopie und Utopie angesiedelten Saga bevölkerten im Laufe der beiden Spielzeiten nicht nur klassische Theaterräume, sondern unter anderem auch das holzvertäfelte Sitzungszimmer. Auch als Gruppe seien sie durch diese intensive Zusammenarbeit und all die neuen künstlerischen Nährböden, auf denen sie sich im Laufe der Zusammenarbeit als Gruppe ausbreiten konnten, sehr gewachsen, betont Margherita Pevere. Und dabei hin und wieder auch über sich selbst hinausgewachsen. Marco Donnarumma formuliert es folgendermaßen: „Sechs Stücke in zwei Jahren zu machen ist schon eine enorme kreative Anstrengung – und auch ein bisschen verrückt.“
110 Prozent
Nach dem Sommer wird es noch ein Stück für den digitalen Raum geben, momentan bündeln Donnarumma, Familari und Pevere jedoch all ihre kreative Energie, um mit ihrer posthumanen Tragödie ein Theatererlebnis zu schaffen, das zu „100 Prozent Fronte Vacuo“ ist, wie die auf biologische Kunst und Performance spezialisierte Künstlerin hervorhebt.„Ich würde sogar sagen, dass es 110 Prozent sind“, fügt Marco Donnarumma lachend hinzu. Was das genau bedeutet, ist im Falle von Fronte Vacuo, deren Arbeiten stets etwas Geheimnisvolles anhaftet, schwer zu sagen. Was bereits festgehalten werden kann, ist, dass es wieder eine Form von Paralleluniversum sein wird, das von menschlicher und künstlicher Intelligenz bevölkert wird – wie auch von Schatten, Robotern und Stimmen. Wer bereit seine Arbeit der Gruppe gesehen hat, wird die ein oder andere Figur wieder erkennen.
Antworten darauf, welcher Art von Zukunft wir nachjagen, um sie irgendwie zu fassen zu kriegen, und wie es gelingen könnte, aus der eingangs beschriebenen Passivität auszubrechen, wird das Kollektiv auch diesmal keine liefern.
Katharsis wird es keine geben. Viel lieber möchten sie auf einer sinnlich-immersiven Ebene neue Diskussionsräume über die Herausforderungen unserer Zeit aufmachen. Wie bei ihren anderen in Wien gezeigten Arbeiten wird es auch in „Tragedia: The hunt“ zu einem Dialog zwischen Natur und Technik kommen, bei dem die gesprochene Sprache, wie wir sie kennen, jedoch keine Rolle spielen wird. Gesang allerdings schon, betont Marco Donnarumma, der sich sehr freut, dass neben Ensemblemitglied Uwe Schmieder diesmal auch die ausgebildete Mezzosopranistin Hasti Molavian mit an Bord ist. „Sie hat große Lust, sich mit uns auf dieses Experiment einzulassen“, hält der Medien-, Performance- und Soundkünstler sichtlich erfreut fest.
Die Nähe zum Publikum soll vor allem durch den Einsatz von Kameras, Licht und LED-Screens hergestellt werden, möchte der multidisziplinär arbeitende Künstler Andrea Familari hervorheben. „Dadurch entsteht ein Raum, der sich niemals statisch anfühlt“, fasst er zusammen.
In einer Welt, in der Zeit und Raum nicht mehr greifbar sind, werden die drei aristotelischen Einheiten kaum einzuhalten sein. Doch das ist, so viel wissen wir bereits, Fronte Vacuo auch überhaupt nicht wichtig. Klar ist außerdem: So unterschiedlich ihre künstlerischen Hintergründe auch sein mögen, so sehr treten die drei Künstler*innen als organisch gewachsene Einheit auf.