Freibrief von Michael Köhlmeier: Kafka und Kraus – kein Vergleich
Keine Literatur hat das Grauen dieses Jahrhunderts präziser erst beschrieben und dann weiter vorhergesagt wie die Erzählungen Kafkas, so der Schriftsteller in seiner neuen Kolumne.
Wir haben das Kafka-Jahr, das Karl-Kraus-Jahr, das Lenin-Jahr, das Anton-Bruckner-Jahr … Den Lenin wollen wir beiseitelassen, über Bruckner können andere Besseres sagen. Für Kafka und Kraus fühle ich mich zuständig.
Und da möchte ich gleich eines vorausschicken: Den Karl Kraus kann ich nicht leiden. Meine Abneigung gegen ihn liegt begründet in seiner Abneigung gegenüber Heinrich Heine, den nämlich liebe ich. Als Student las ich den Aufsatz „Heine und die Folgen“. Da standen die Sätze: „Die Neugierde ist immer größer als die Vorsicht, und darum schmückt sich die Lumperei (…) Ihren besten Vorteil dankt sie jenem Heinrich Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können.“ – Ich weiß schon: Das finden Kraus-Fans sehr lustig. Sie preisen den messerscharfen Ironiker, den Pamphletisten, den Krieger mit der Feder. Ich finde ihn grausig. Und wenn man seine lächerlichen Versuche in Lyrik mit den Gedichten von Heine vergleicht, dann möchte man sich schaudernd umdrehen und den Staub von den Schuhen klopfen.
Dass Karl Kraus gemeinsam mit dem größten Dichter des vergangenen Jahrhunderts genannt wird, verdankt er ausschließlich dem Umstand, dass er vor 150 Jahren geboren wurde und Kafka vor 100 Jahren starb. Mehr Gemeinsames gibt es nicht. Es wird berichtet, Kafka habe Lesungen von Karl Kraus besucht. Was er davon hielt, wissen wir nicht. Es existieren Tonaufzeichnungen von diesen Veranstaltungen. Die männlichen Stimmen waren zu jener Zeit höher als heute, denken wir an die Radiosendungen von Thomas Mann, dennoch dürfte die piepsende Fistelstimme von Karl Kraus auch zu seiner Zeit unvergleichlich gewesen sein. Zusammen mit dem hysterischen Pathos ergab sich eine Gefühlslage, die die Zuhörer in zwei Gruppen spaltete: in jene, die jubilierten und sich in der Vergottung ihres Idols bestätigt sahen, und in die Gruppe derer, die nie wieder eine Veranstaltung dieses gloriosen Besserwissers besuchten.
Karl Kraus erwähnt in seinem Werk – umfassend auch die Zeitschrift „Die Fackel“, deren Beiträge er so gut wie alle selber schrieb – Kafka nicht ein einziges Mal. Immerhin habe er ihn privatim „einen Dichter“ genannt – für Menschen, die in Karl Kraus die Oberinstanz der Literaturkritik sahen und sehen, war dies und ist dies eine Beinahe-Heiligsprechung. Nicht genug allerdings, um sich mit ihm und seinen Büchern näher zu befassen – wie es beispielsweise der bei weitem nicht so lautstark fuchtelnde, aber doch viel klügere Walter Benjamin tat.
Kafka als Prophet
Franz Kafka ist alles. – Man hat ihn schon die Fortsetzung der biblischen Propheten ins 20. Jahrhundert genannt. Als rätselhaft und dunkel wurde er beschrieben. Unauslotbar in seiner Tiefe. Keine Literatur habe das Grauen dieses Jahrhunderts präziser erst beschrieben und dann weiter vorhergesagt als die Erzählungen dieses Dichters.
Die Absurdität unseres Daseins verkörpert nicht nur der Protagonist Josef K., sie findet sich in allen auftretenden Figuren wieder, sei es in dem „älteren Junggesellen“ Blumfeld, der gegen zwei Tischtennisbälle kämpft, die hinter seinem Rücken auf und ab springen, oder im Hungerkünstler, der, einst bestaunt, allmählich im Stroh verrottet, oder in dem Affen Rotpeter, der einer Akademie über sein äffisches und nachäffisches Leben Bericht erstattet. Ohne Kafka ist ein Samuel Beckett nicht denkbar.
Das große Krabbeln ...
… sollte man sich bei Lucia Bihlers Inszenierung von Kafkas „Verwandlung“ keinesfalls erwarten. Dafür Theatermagie im Übermaß, viel Sinnlichkeit, eine starke ästhetische Setzung und Franz Kafka, gespielt von Jonas Hackmann, als Figur auf der Bühne. Weiterlesen...
Lange wurde vergessen, auf eine andere Seite dieses Werkes aufmerksam zu machen: auf die komische. Es wird erzählt, Kafka habe die Vorlesungen seiner Geschichten oftmals abbrechen müssen, weil er so sehr habe lachen müssen – erschütternd, ausgerechnet bei der Erzählung „In der Strafkolonie“, wo er unter anderem schildert, wie dem Delinquenten die Schuld mit Nadeln in den Rücken buchstabiert wird. Diese Erzählung ist nicht lustig – aber sie ist es doch.
Sie ist es wegen der Sprache, in der sie verfasst ist. Die durch und durch bürokratische Sprache, seelenlos und unbarmherzig, benimmt sich wie ein Außerirdischer unter Menschen. Sie weiß nicht, was sie tut. In ihrer angestammten Umgebung, also unter Bürokraten, wäre sie eine Autorität, unter Menschen, die bluten, wenn man sie sticht, die lachen, wenn man sie kitzelt, und die sterben, wenn man sie vergiftet, ist sie ein Tollpatsch. Wenn der Tollpatsch sich wie ein Herrscher aufführt, dann müssen wir lachen, auch wenn wir ihn fürchten sollten. Das Komische braucht das Gefälle.
Märchen mit Kafka
Kafka ist der größte Märchenerzähler des Jahrhunderts. Ich denke an die ebenso heitere wie entsetzliche Geschichte „Der Geier“. Darin hackt der Vogel einem Mann in die Füße. Ein anderer kommt dazu, fragt, warum er sich das gefallen lässt. Der Mann sagt, er wisse nicht, was er dagegen tun könnte. Der andere bietet ihm an, nach Hause zu gehen und sein Gewehr zu holen, das leihe er ihm aus, dann könne er den Geier erschießen. Er solle sich bitte beeilen, sagt der Mann. Der Geier hat aufmerksam zugehört, nun springt er dem Mann an die Brust und stößt ihm seinen spitzen Schnabel tief in den Rachen. Der andere schaut voll Befriedigung zu, wie der Geier in des Mannes Blut ertrinkt.
Ungern, aber doch komme ich noch einmal zu Karl Kraus. Zugegeben: „Die letzten Tage der Menschheit“ ist ein gewaltiges Werk, unübertrefflich, gigantisch, groß. Aber seine Größe besteht in der Kritik. Und genau darin besteht auch die Größe dieses Autors. Er kann nichts dulden, was sich seiner Kritik entzieht. Entweder er ignoriert es – siehe Kafka –, oder er macht es nieder, siehe Heinrich Heine.
Er weiß, wenn er dem Heine auf den Schultern säße, reichte er ihm nicht bis zum Kinn. Da muss die Kritik eben zur Denunziation greifen: „Heine war ein Moses, der mit dem Stab auf den Felsen der deutschen Sprache schlug. Aber Geschwindigkeit ist keine Hexerei, das Wasser floss nicht aus dem Felsen, sondern er hatte es mit der anderen Hand herangebracht; und es war Eau de Cologne. Heine hat aus dem Wunder der sprachlichen Schöpfung einen Zauber gemacht.“
Zur Person: Michael Köhlmeier
Der renommierte Schriftsteller mit Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman Matou