„Mich fasziniert, wenn etwas nicht funktioniert“, sagt Helgard Haug, bei der gerade sehr vieles funktioniert. Bei der es beruflich so richtig gut läuft, könnte man auch sagen. Fünf Einladungen zum Theatertreffen hat die Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin des Kollektivs Rimini Protokoll bereits in der Tasche, ihre Produktion „All right. Good night.“ wurde 2022 zur Inszenierung des Jahres gewählt. Das hält Helgard Haug jedoch nicht davon ab, sich in ihrem aktuellen Stück mit Zusammenbrüchen und absolutem Stillstand zu beschäftigen. Ganz im Gegenteil.

Anzeige
Anzeige

In „Ever Given“ setzt sich die Theatermacherin damit auseinander, was passiert, wenn gar nichts mehr läuft – außer vielleicht ein riesengroßes Containerschiff auf Grund oder überhaupt alles aus dem Ruder. Just go with the flow? Fehlanzeige. Dort, wo einst ein reißender Fluss war, ist nun ein kraftloses Rinnsal. Die Menschen, die in Helgard Haugs neuem Abend auf der Bühne stehen, befanden sich in ebensolchen festgefahrenen Situationen. Sie erzählen aber auch, wie sich der Motor – manchmal stotternd, manchmal nicht – nach einiger Zeit wieder in Gang setzte.

Helgard Haug
Helgard Haug ist Gründungsmitglied des Theater- und Audiolabels Rimini Protokoll, Autorin und Regisseurin. Fünf ihrer Stücke wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen, zuletzt „All right. Good night.“, das außerdem von „Theater heute“ zur ­Inszenierung des Jahres gekürt wurde. Auch für ihre Hörspielarbeiten wurde ­Helgard Haug mehrfach ausgezeichnet.

Foto: Mara von Kummer

Geschichten des Stillstands

„Wir haben nach einem Stoff für das Volkstheater gesucht und sind schließlich beim Thema des Zusammenbruchs gelandet. Das Containerschiff mit dem Namen ‚Ever Given‘, das 2021 im Suezkanal stecken blieb, ist für mich ein perfektes Bild dafür. In diesem Zusammenhang haben wir uns auch mit dem Phänomen der ‚Sea Blindness‘ beschäftigt, also damit, dass wir Menschen, die fernab der Meere leben, gar nicht vor Augen haben, was dort die ganze Zeit abläuft,um uns unseren Lebensstandard zu ermöglichen. Wir sind zu weit weg davon“, so die Theatermacherin.

Die Geschichte des Nichtankommens und der gerissenen Handelskette wird über eine große LED-Tafel erzählt, der Helgard Haug eine eigene Persönlichkeit zugeschrieben hat und auf der – ähnlich wie bei „All right. Good night.“ – zu lesender Text erscheint. Auf der Bühne befinden sich jedoch auch vier Menschen – drei davon sind physisch anwesend, eine Person tritt via Video auf –, die ihre Geschichten zum Motiv des Zusammenbruchs erzählen. Wie bei den meisten Theaterproduktionen von Helgard Haug und Rimini Protokoll stehen in „Ever Given“ wieder Expert*innen und keine Schauspieler*innen auf der Bühne. Einer von ihnen ist der gebürtige Syrer Hana Hazem Arabi, der seine Fluchtgeschichte erzählt. „Das Theater gibt meiner Geschichte eine Stimme und mehr Raum für Ausdruck“, sagt er. Seine Geschichte möchte er auch deshalb teilen, „damit die Menschen verstehen, dass hinter jeder geflüchteten Person eine Lebensgeschichte steht, die ihnen vielleicht näher ist, als sie sich vorstellen“. Darüber hinaus will er zeigen, dass „Schwierigkeiten überwunden werden können und dass Hoffnung dabei eine große Rolle spielt“.

„Wir haben in der Recherchephase für dieses Stück unglaublich viele Menschen getroffen, was wir ja immer tun, um uns ein Thema zu erschließen. Auch mit Menschen aus dem Wirtschaftsbereich und der Containerschifffahrt haben wir viele Gespräche geführt“, sagt Haug.

Anzeige
Anzeige

Weil es terminlich leider nicht ganz klappte, erzählt die Wiener Künstlerin Marianne Vlaschits ihre Geschichte über Videoeinspielungen. „Ich habe sie gefunden, weil ich mich mit dem Phänomen des Stotterns beschäftigt habe“, hält Helgard Haug fest. „Ich fand das auch deshalb interessant, weil das Stottern den Anspruch unterläuft, auf einer Theaterbühne möglichst flüssig sprechen zu müssen.“ Auch bei „Chinchilla Arschloch, waswas“ forderte die Autorin und Regisseurin gängige Theaterkonventionen heraus, indem sie mit drei Menschen mit Tourette-Syndrom arbeitete.

Das Blatt füllt sich erst nach der ­Entscheidung, wessen Geschichte ­erzählt wird.

Helgard Haug, Regisseurin & Autorin

Schlingernde Musik

Die Eiskunstläuferin Michaela Groch-Fischer ist ebenfalls Teil des Stücks. Durch die fließenden Bewegungen ihres Sports setzt sie den Stockungen einen Kontrast entgegen. Doch auch sie weiß, was es bedeutet, ausgebremst zu werden.

Die vierte Person im Bunde ist Adham Elsaid, ein bekannter Sänger aus Ägypten, der aufgrund einer Operation im Rollstuhl sitzt, darüber aber das Singen für sich entdeckt hat, erzählt Helgard Haug. „In der Vergangenheit habe ich meine Erinnerungen oft vergraben und vor anderen versteckt, was dazu führte, dass ich viel von ihnen träumte. Das hat mich dazu gebracht, diese Erinnerungen mit anderen zu teilen, vielleicht um diese beunruhigenden Träume von mir fernzuhalten“, erläutert Elsaid seine Beweggründe.

Entdeckt hat ihn die Musikerin und Komponistin Barbara Morgenstern, mit der Helgard Haug schon mehrfach zusammengearbeitet hat. „Genau wie im Verlauf des Kollapses schlingert auch die Musik. Wir werden rausgeworfen, müssen das Tempo neu suchen, spielen verschoben zueinander und bilden auch den Stillstand ab. Aber es gibt natürlich auch den Moment, in dem alles richtig gut läuft“, gibt Morgenstern einen kleinen Einblick in ihre Kompositionen. Den Stellenwert der Musik in ihren Arbeiten erläutert Helgard Haug folgendermaßen: „Die Musik ist dem Text nicht untergeordnet, sondern gleichberechtigt.“

Mit Menschen zu arbeiten, die ihre Rollen bereits mitbringen und in diese nicht erst hineinschlüpfen müssen, ist für Helgard Haugs Theaterarbeit elementar. „Natürlich weiß ich, wonach ich suche, aber das Blatt füllt sich erst nach der Entscheidung, wessen Geschichte erzählt wird – in vielen Gesprächen und Aushandlungsprozessen.“

Bei „Ever Given“ hat sich Helgard Haug eine Zusatzherausforderung aufgebrummt: „Wir haben uns vorgenommen, bei jeder Aufführung mit einem anderen Akt einzusteigen.“ Zirkularität als Gegenbewegung zum Stillstand? Vielleicht. Wird es funktionieren? „Wir werden so lange proben, bis es das tut“, sagt sie lachend. Trotzdem wird sie auch in Zukunft lieber dort ganz genau hinschauen, wo die Dinge nicht rund laufen. Wir freuen uns darauf.

Zu den Spielterminen von „Ever Given“ im Volkstheater!