„Wir müssen umlernen.“ Paula Nocker meint den Text des Tschechow-Klassikers „Die Möwe“, den sie und ihr Kollege Nils Arztmann bereits 2022 bei den Festspielen Reichenau auf die Bühne gebracht haben und der nun im Theater in der Josefstadt Premiere feiert. „Die dramaturgische Setzung ist eine ganz andere“, erläutert Nils Arztmann, der den sensiblen, von seiner Mutter ungesund abhängigen und von der Kunstwelt unverstandenen Konstantin, genannt Kostja, spielt.

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Man habe zwar die Grundlagen der zwei Jahre alten Inszenierung Torsten Fischers parat, und auch die Figuren seien noch immer sehr präsent, allerdings habe sich der Text zugunsten von noch mehr emotionaler Tiefe verändert. „Also müssen wir die modifizierte Fassung neu lernen, was ich persönlich schwierig finde, aber das bekommen wir schon hin“, so Paula Nocker, deren Figur Nina von einer großen Schauspielkarriere träumt, sich in den falschen Mann verliebt und letztendlich an all ihren Visionen einer besseren Zukunft scheitert. Anton Tschechow bezeichnete sein 1896 uraufgeführtes Werk interessanterweise als Komödie. Die Rezipienten sahen dies anders, denn im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich das auf einem russischen Landsitz angesiedelte Drama, in dem sich die Protagonisten hauptsächlich zu Tode langweilen, immer mehr zur Tragödie, an deren Ende es stets verlässlich heißt: „Konstantin Gavrilovič hat sich erschossen.“ Von eben jenem Kostja und von Nina, in die er sich unglücklich verliebt, existieren in der Theatergeschichte unzählige Interpretationsangebote.

Wie sehen Paula Nocker und Nils Arztmann die von ihnen dargestellten Charaktere?

„Nina hat einen starken Traum, sie will weg aus dem Dorf und Schauspielerin werden. Sie stellt sich für ihr Leben etwas Größeres vor und versucht auch pedantisch, ihre hohen Ansprüche umzusetzen. Es sieht anfänglich ja auch nicht schlecht aus für sie, doch dann stirbt ihr Kind, und ihre Liebe zum Schriftsteller Trigorin zerbricht. Ich glaube, da wird sie zum ersten Mal vom Leben überrumpelt. Geplant war es anders.“

Nils Arztmann wiederum schrieb seine Diplomarbeit über „Die Möwe“, könnte also noch viel mehr erzählen: „Kostja glaubt an die Liebe, er ist kunstsinnig und hat die Hoffnung und den Willen, die Dinge anders zu machen als die Vorgängergeneration. Seine Beziehung zur Mutter ist ambivalent, sie schwankt zwischen Anerkennungssucht und Hass. Er sucht einen Anker, doch alle Bezugspersonen brechen ihm nach und nach weg. Er ist nicht der psychisch Gestörte, als der er oft dargestellt wird, sondern Idealist und versucht bis zum Schluss, sich in dieser Welt zu halten.“

Falls die Liebe als Rettungsanker hätte taugen können, versagt sie hier auf allen Linien. Und für alle Beteiligten. Was bleibt, ist kalte Leere. „Ich habe keinen Glauben mehr“ ist einer der letzten Sätze Kostjas.

Wer sitzt denn an der Spitze? Man schaut sich um und ist ernüchtert.

Paula Nocker, Schauspielerin
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Abgesagte Revolutionen

Die Möwe dient als Symbol eines freien, von Zwängen befreiten Lebens, was mit Blick auf die Schicksale der einzelnen Figuren beinahe zynisch anmutet. „Von Zwängen befreit ist in diesem Stück niemand“, konstatiert Nils Arztmann, „ein befreites Leben ist auch kaum möglich, weil es in jedem menschlichen Dasein Erfahrungen gibt, die nicht positiv sind. Und sobald ich ein Trauma erlebt habe, ist es schwierig, mich davon zu lösen.“

An einer Stelle sagt Kostja: „Wir brauchen neue Formen, und zwar im Theater, in der Politik, im Zusammenleben und in der Liebe.“ Ein 128 Jahre alter Satz, der dennoch Tagesaktualität besitzt.

Warum fällt es uns eigentlich so schwer, positive Revolutionen anzuzetteln? „Ich glaube, weil wir erschöpft sind. Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten so vieles versucht und thematisiert, ohne dass Entscheidendes vorangegangen wäre. Trotzdem muss man es weiter versuchen, egal ob in der Liebe oder in der Politik“, ist Nils Arztmann überzeugt. „Wer sitzt denn an der Spitze?“, stellt Paula Nocker eine rhetorische Frage. „Man schaut sich um und ist ernüchtert.“

Die Möwe Josefstadt
Paula Nocker und Nils Arztmann sind auf einer Wellenlänge. Beide sind Vielarbeiter, ziehen eigenen Angaben zufolge neben Spaß aber auch Kraft aus ihrem Beruf. „Wenn ich nichts zu tun habe, schleicht sich schnell der Schlurf ein“, konstatiert Nils Arztmann.

Foto: Stefan Fürtbauer

Hilfsmittel Schuhe 

Nils Arztmann ist seit 2023 Ensemblemitglied im Theater in der Josefstadt und hatte wenige Wochen vor „Die Möwe“ mit „Leben und Sterben in Wien“ noch eine zweite Premiere. Paula Nocker ist allein in dieser Spielzeit in neun Produktionen zu sehen. Wie viel Leben geht sich da noch aus? „Es ist viel, aber es macht Spaß“, so Paula Nocker. „Ich habe das Gefühl, dass jetzt die richtige Zeit ist, um mich umfassend ausprobieren zu können. Wenn ich in diesem Rhythmus drinnen bin, bekomme ich mehr Energie, als ich geben muss. Und wenn ich einmal eine Woche lang frei habe, kann ich auch schamlos gar nichts tun.“

Braucht es NLP-Druckpunkte, um abends zu wissen, in welchem Stück man gerade spielt? Paula Nocker lacht und verweist auf das ominöse Körpergedächtnis, über das Schauspieler angeblich verfügen. „Mir hilft auch das Kostüm“, ergänzt Nils Arztmann. „Und die Schuhe!“, behauptet Paula Nocker, „sobald ich die anhabe, weiß ich, welche Rolle ich zu verkörpern habe.“

Frei von Prätention

In einem früheren Interview mit der BÜHNE sprach Paula Nocker vom Ansinnen, sich als Schauspielerin nicht zu wichtig zu nehmen. Wie gelingt das in einem Beruf, dessen wichtigste Währung die Aufmerksamkeit ist?

„Ich habe Freunde aus unterschiedlichen Berufen, aber kaum Schauspieler. Meine Eltern kommen aus diesem Beruf, auch meine Großeltern, vielleicht habe ich mir unterbewusst Menschen ausgesucht, mit denen man auch über etwas anderes reden kann. Das ist angenehm und ein guter Ausgleich. Als Schauspieler hat man sein Büro auch nicht zu Hause, sondern es besteht eine räumliche Trennung zwischen beruflich und privat“, weist Paula Nocker auf einen (vermeintlichen) Vorteil hin – dem Nils Arztmann umgehend widerspricht. „Man nimmt die Texte mit nach Hause und lernt sie auch daheim. Sich nicht zu ernst zu nehmen gelingt über Menschen von außen, die einen immer wieder daran erinnern, dass auch wir nur einen Beruf ausüben. Meist genügt dieser kleine Hinweis …“

Was haben die beiden Vielbeschäftigten – Nils Arztmann hat 2023 auch die TV-Serie „Die Fälle der Gerti B.“ abgedreht – im heurigen Sommer vor?

„Bei mir steht Reichenau an, wo ich Annie in ‚Anatol‘ spiele“, antwortet Paula Nocker wenig überraschend. „Ich könnte auch nein sagen, aber mir macht es Spaß, wenn die ganze Familie zusammenkommt, und ich freue mich, zum ersten Mal mit Regisseur Michael Gampe arbeiten zu können. Urlaub gibt es erst im August.“

Nicht so bei Nils Arztmann. „Ich habe den ganzen Sommer frei und werde wegfahren. Nach Spanien und Portugal. Gerade nach der ersten Saison, in der ich viel zu tun hatte, freue ich mich darauf. Abschalten, Urlaub machen und daran denken, dass es nur ein Beruf ist.“ Lachen. Vorhang.

Zur Person: Nils Arztmann

War im Jugendensemble „gut gebrüllt“ unter der Regie von Maria Köstlinger, studierte Schauspiel am Max Reinhardt Seminar und spielte im TV-Landkrimi „Flammenmädchen“ sowie in der Wiener Stadtkomödie „Die Fälle der Gerti B.“. Sein Josefstadt-Debüt gab er 2023 mit „Was ihr wollt“ in den Kammerspielen. 

Zur Person: Paula Nocker

Spielte mit 8 Jahren im Film „Lapislazuli“ neben Christoph Waltz, stand 2005 erstmals bei den Festspielen Reichenau auf der Bühne, war 2021 im Salzburger „Jedermann“ Teil der Tischgesellschaft und debütierte im selben Jahr als Lucy in „Die Dreigroschenoper“ in den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt. 

Zu den Spielterminen von „Die Möwe“ in den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt!