Seltsame Sogwirkung. Es gibt Stücke – und sie sind gewiss nicht alltäglich –, die einen fesseln, als wären sie eine Netflix-Serie. Man liest sie in einem durch, weil man nicht aufhören kann, wissen zu wollen, wie es weitergeht. Auch wenn sie, wie im Falle von „Das Vermächtnis“, 227 Seiten haben, ständig die Erzählperspektive wechseln, in der zeitlichen Abfolge Haken schlagen und so viele Schicksale berühren, dass man mit dem Fühlen kaum nachkommt.

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Der junge US-Autor Matthew López schuf mit diesem bereits in London, New York und München höchst erfolgreichen – und mehrfach prämierten – Drama ein Opus magnum, das lose auf E. M. Forsters Novelle „Howards End“ basiert und das in seiner ganzen Wucht an Tony Kushners „Angels in America“ erinnert.

Verhandelt wird das Leben schwuler New Yorker kurz vor dem Amtsantritt Donald Trumps als 45. Präsident der USA. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen dem demokratischen Wahlkämpfer Eric Glass (Martin Niedermair) und dem Autor Toby Darling (Raphael von Bargen), dessen Erfolg im Wesentlichen auf der Verleugnung seiner eigenen schmerzlichen Biografie beruht.

Liebe, Begehren, Sex, Freundschaft, Politik ... Matthew López berührt alle Lebensbereiche. In Rückblenden holt er die Tragödie der Aids-Epidemie in den 1980er-Jahren noch einmal in die Gegenwart und bringt die Erschütterung des Verlustes auch der nächsten Generation näher. Denn in „Das Vermächtnis“ geht es auch um die Verantwortung füreinander, das Wesen der Community, transgenerationale Traumata, die Bedeutung von Rollenvorbildern. Und ihr Fehlen.

Martin Niedermair
Martin Niedermair studierte Schauspiel am Konservatorium der Stadt Wien und in Hamburg, feierte mit dem Einpersonenstück „The Tell Tale Heart“ in Australien Erfolge, spielte am Schauspielhaus Wien und gehört seit 2008 zum Ensemble des Theaters in der Josefstadt. Aktuell u. a. zu sehen in „Miss Scrooge“ und „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“, ab Mai in „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“.

Foto: Marcel Urlaub

Wenn wir uns schon auf die Fahnen heften, auf der Bühne das Leben abzubilden, muss auch für Schwule Platz sein.

Martin Niedermair, Schauspieler
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Das Theater in der Josefstadt bringt das Stück in der österreichischen Erstaufführung auf die Bühne und setzt es sowohl in zwei Teilen als auch als sechsstündigen Kraftakt auf den Spielplan. Zu erwarten ist ein Ereignis. So oder so.

„Das Stück ist dramaturgisch brillant“, findet nicht nur Raphael von Bargen. „Es beinhaltet ernsthafte Themen, die aber erstaunlich leicht daherkommen. Alles, was hier verhandelt wird, ist zutiefst menschlich. Im Bereich der Sexualität, in der so vieles im Umbruch ist, holt es die Menschen genau da ab, wo sie diskursiv aktuell stehen. Und es perforiert Grenzen, die zum Teil noch in den Köpfen herrschen. Mir gefällt in diesem Kontext zudem, dass dieses Stück darauf verweist, dass wir gewisse Dinge heute nur deshalb frei diskutieren können, weil es vor uns Menschen gab, die dafür gekämpft haben. Wir sind aufgefordert, das nicht zu vergessen.“

Martin Niedermair findet, dass die Thematik durchaus Mainstream sei. „Nur das Setting ist es nicht. Die grundsätzliche Struktur des Stücks, das auf ‚Howards End‘ fußt, hat bereits hundert Jahre überdauert und lässt sich auch in einen völlig anderen Lebenshintergrund implementieren. Dadurch ist es auch verständlich für Menschen, die nicht der schwulen Community angehören. Die Themen sind allgemeingültig, wiewohl der Kontext neue Sichtweisen impliziert.“

Raphael von Bargen
Raphael von Bargen studierte am Max Reinhardt Seminar in Wien und wurde von dort direkt ans Burgtheater engagiert, wo er u. a. in „Das Maß der Dinge“ zu sehen war. 2006/07 wechselte er ans Volkstheater, spielte Hauptrollen in „Cabaret“ oder „Peer Gynt“ und kam 2016/17 fix ins Ensemble der Josefstadt. Aktuell spielt er u. a. in „Onkel Wanja“, „Leopoldstadt“, „Gott“ und „Trilogie der Sommerfrische“.

Foto: Marcel Urlaub

Künstlerische Ambition

Wie schafft man es als Schauspieler, sechs Stunden Bühnenpräsenz samt enormen Textflächen nicht nur hinzubekommen, sondern auch unbeschadet zu überstehen?

„Augen auf bei der Berufswahl“, scherzt Raphael von Bargen. „Es ist ein bisschen wie in einem Trainingslager, wobei wir uns einander mit großer Vorsicht nähern. Das Stück bietet keinen greifbaren Holzschnitt, keine archetypische Struktur, sodass man den Text nur innerhalb der jeweiligen Szene mit dem Partner entwickeln kann.“ Man müsse im Grunde zwei Stücke proben, ergänzt Martin Niedermair. „Und wir Schauspieler wollen ja immer viel Text. Hier hat man ihn. So be careful what you wish ... Die vielen Dialoge entbinden einen allerdings von der Verantwortung, den Text allein tragen zu müssen, weil man oft nur auf den Partner reagieren muss.“

Neben dem Gesagten findet der Aus- tausch auch über explizite Körperlichkeit statt. Nacktheit und Sex werden nicht nur besprochen. „Auch hier ist die Wahrheit jedem zuzumuten“, so Martin Niedermair.„Nichts daran ist falsch oder auf Effekt getrimmt. Wir zeigen Situationen, die das Leben beinhaltet, die menschlich sind. Davor sollte man auch als Zuschauer keine Angst haben.“ Auch Raphael von Bargen betont, dass es für ihn beim Lesen des Stücks keinen einzigen voyeuristischen Moment gegeben habe. „Die Sexualität entsteht aus einer großen Sehnsucht heraus, aus einem Bedürfnis nach Nähe. Der Autor liebt seine Figuren, was nicht immer der Fall ist.“

Die im Stück behandelte Politik, von der Ausgrenzung HIV-Positiver im Amerika der 1980er-Jahre bis hin zur Ära Trump, sei hochaktuell.

Das Vermächtnis
Raphael von Bargen und Martin Niedermair spielen Toby und Eric.

Foto: Marcel Urlaub

„Die Deklassifizierung von Menschen sehen wir furchtbarerweise heute wieder überall“, bedauert Raphael von Bargen. „Menschenrechte schon, aber bitte nicht für alle, lautet vielerorts die Devise. Eine Kernaussage des Stücks ist für mich, dass bei aller Belastung, die wir erleben, Zwischenmenschlichkeit die einzige Therapie ist.“

Und was das Schwulsein betrifft, hat Martin Niedermair eine Botschaft. „Wir sollten einfach zur Kenntnis nehmen, dass ein gewisser Prozentsatz der Gesellschaft homosexuell liebt. Ich kann mein Leben doch nicht vor dem verschließen, was ohnehin da ist. Da müsste ich mich ja vor allem verschließen, was mich nicht direkt betrifft. Insofern ist Sichtbarkeit in allen Formen wichtig. Und wenn wir uns schon auf die Fahnen heften, auf der Bühne das Leben abzubilden, muss auch für Schwule Platz sein.“

Persönliches Vermächtnis

„Matthew López macht einen vermeintlichen Rand der Gesellschaft zum Zentrum der Unternehmung. Und zwar flächendeckend, nicht nur als episodische Figuren. Anders als etwa bei ‚La Cage aux Folles‘ sehen wir keine quotenschwulen Männer, die Farbe ins Geschehen bringen“, präzisiert Regisseur Elmar Goerden. Er habe das Stück auch deshalb machen wollen, weil es nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so ungewöhnlich sei. „Einerseits beinharter Realismus, andererseits mit überlappenden Zeiten und plötzlich auftretenden Toten. Und es umfasst beinahe einen ganzen Tag, wen man es sich am Stück anschaut.“
Es gibt unendliche Möglichkeiten, Figuren Leben einzuhauchen. Auf welche Weise hat er sich dem „Vermächtnis“ angenähert? „Bei mir beginnt es immer mit einer Kombination von Schauspielern. Wenn mich ein Stück wirklich anspringt, denke ich schon beim Lesen, diese Rolle könnte der oder die spielen. Warum, kann ich nicht sagen, aber ich wusste sofort, dass Martin Niedermair Eric, Raphael von Bargen Toby und Nils Arztmann Leo (ein schwuler Sexworker und späterer Autor; Anm.) sein sollten.“

Das Vermächtnis.
Raphael von Bargen und Martin Niedermair. / STYLING: PULLOVER STELLA NOVA VIA PEEK&CLOPPENBURG, ACCESSOIRES KETTE KUNSTHANDEL PICHLER, SHORTS J.LINDEBERG, SOCKEN FALKE, PENNY LOAFERS SEBAGO

Foto: Marcel Urlaub

Was Kernaussagen betreffe, sei er meist befangen, weil er finde, dass man sonst auch einfach das Resümee aufführen könne.

„Was dieses Stück aber ausruft, ist: Ohne Vergangenheitsbewältigung keine Gegenwart, und ohne Gegenwartsverständnis keine Zukunft. You are standing on the shoulders of somebody, vergiss das nicht. Du kannst nur deshalb hier sein, weil vor dir ein anderer da war, dem du etwas zu verdanken hast. Das beinhaltet ja schon der Titel. Ein weiterer Grund für mich, das Stück inszenieren zu wollen, ist, dass es meine Lebenszeit abbildet. Als es Anfang der 1980er-Jahre den großen Aids-Kahlschlag in New York gab, habe ich dort studiert. Der Text ist wie ein Löschpapier, er nimmt sehr viel Zeit auf, erzählt nicht nur eine private Liebesgeschichte. Ich möchte mich damit verausgaben und habe dafür auch einiges abgesagt. Ohne pathetisch sein zu wollen, es ist auch für mich eine Art von Vermächtnis.“

Die Proben seien sehr intensiv. Bis auf Andrea Jonasson besteht das Ensemble ausschließlich aus Männern.

„Eine der interessantesten Erfahrungen bisher ist, dass wir die gesamte emotionale Klaviatur abdecken und merken, wie viel sonst bei den Schauspielerinnen abgeladen wird, während die Schauspieler in einer Art toxischer Männlichkeit verweilen. Hier wird den Männern nichts abgenommen. Auch nicht die Verletzlichkeit und Fragilität des Körpers. Und das sorgt für einen ganz anderen Umgang miteinander.“

Elmar Goerden
Elmar Goerden. Der Regisseur ist regelmäßiger Gast im Theater in der Josefstadt und inszenierte hier zuletzt „Lulu“. „Das Vermächtnis“ ist für ihn eine außergewöhnliche, intensive Arbeit, für die er einige andere Angebote abgesagt hat. „Dieses Stück bildet meine Lebenszeit ab.“

Foto: Marcel Urlaub

Wesentlicher Zeitzeuge

Marcello De Nardo mimt Tristan, Arzt und bester Freund von Eric. „Ich hätte auch den zweiten Baum links hinten gespielt, weil ich unbedingt dabei sein wollte“, meint er scherzhaft. „Das Stück betrifft meine Jugend, ich habe in den 1980er-Jahren in New York gelebt und fast alle meine Freunde an Aids verloren. Die Reagan-Regierung damals hat gar nichts gemacht, sondern beschlossen, die Schwulen einfach sterben zu lassen. Dann war man sie los.“ Eltern hätten sich von Betroffenen losgesagt.

„Mein Freund Stanley lebte in Europa und wollte zum Sterben nach Amerika zurückkehren. Seine Familie hat gesagt, er solle hierbleiben, sie hätten kein Geld, ihn heimzuholen.“

„Das Vermächtnis“ sei auch Trauer- und Traumabewältigung für ihn. Er könne sich noch genau an seinen ersten Aids-Test erinnern, das tagelange Zittern, die Erleichterung. An das schlechte Gewissen, weil man selbst mit dem Leben davonkam.

All das kann Marcello De Nardo nun seinen jungen Kollegen vermitteln. Er ist also selbst zum transgenerationalen Mittelsmann geworden. „Ich wünschte mir, dass wir, die schwule Community, nicht so ausgrenzend und beurteilend einander gegenüber wären“, fügt er hinzu. „Auch wenn vieles von Verletzungen herrührt, bringt Lieblosigkeit doch nie etwas.“

Er finde, dass die heutige Generation diesbezüglich offener sei, was ihn stolz und zuversichtlich mache.

Seine Erwartungen an „Das Vermächtnis“? – „Dass es möglichst viele Menschen erreicht. Ich bin ein Zirkuspferd und will nicht vor leeren Rängen traben. Je mehr Leute es sehen, desto mehr wird auch darüber gesprochen. Und das wäre so wichtig.“

Marcello De Nardo
Marcello De Nardo. Der Schauspieler gehört zu jener in „Das Vermächtnis“ thematisierten ersten Generation schwuler Männer, von denen in New York beinahe alle der Aids-Epidemie zum Opfer fielen. Davon jungen Kollegen erzählen zu können, sei für ihn auch Trauer- und Traumatherapie.

Foto: Marcel Urlaub

Hier geht es zu den Spielterminen von Das Vermächtnis im Theater in der Josefstadt!