Das flüssige Land: In Groß-Einland tun sich Abgründe auf
Mit der Ausdehnung des Hohlraums, der sich unter dem Ort Groß-Einland befindet, werden auch die Gedächtnislücken der Groß-Einländer immer deutlicher. Sara Ostertag über ihre Begeisterung für Raphaela Edelbauers fantastisch-realistisches Debüt „Das flüssige Land“.
Im Dezember brachte das in Wien beheimatete Theaterkollektiv makemake produktionen Alja Rachmanowas 1933 erschienenen Roman „Milchfrau in Ottakring“ als streng durchchoreografierten und dennoch ungemein verspielten Theaterabend im Kosmos Theater auf die Bühne. Ein flaches, kreisförmiges Becken wurde zum Dreh- und Angelpunkt einer Vielzahl von Konflikten, in die sich die Spieler*innen auf ebenso körperliche wie höchst musikalische Weise immer weiter hineinmanövrierten.
Nun inszeniert Sara Ostertag, die makemake vor etwas mehr als 10 Jahren mitbegründete, im Kasino des Burgtheaters „Das flüssige Land“, eine Bühnenfassung des gleichnamigen Debütromans von Raphaela Edelbauer. Die in Wien geborene Regisseurin hält Edelbauer für eine der spannendsten Stimmen der jüngeren österreichischen Literatur und schlug dem Burgtheater den Text vor. Worum es in dem zwischen Philosophie, Magie und Realität oszillierendem Roman geht, lässt sich gar nicht so einfach zusammenfassen.
Ein alles verschlingender Hohlraum
Wir versuchen es trotzdem: Ruth Schwarz, eine Wiener Physikerin, verliert ihre Eltern bei einem Autounfall und erfährt daraufhin von ihrer Tante, dass diese darüber verfügt hätten, im Ort Groß-Einland begraben zu werden. Auf durchaus halsbrecherische Weise begibt sich Ruth also auf die Suche nach der kleinen Stadt, die seltsamerweise auf keiner einzigen Landkarte zu finden ist. Dort angekommen wird ihr rasch klar, dass das Leben der Groß-Einländer von einem riesengroßen Hohlraum bestimmt wird, der sich unterhalb des Ortes erstreckt und immer größere Teile seiner Infrastruktur verschlingt. Groß-Einland bricht gewissermaßen unter der Last seiner verdrängten, nationalsozialistischen Geschichte zusammen und Ruth beginnt sich im Zuge ihrer Tiefenbohrungen immer mehr in dieser zu verheddern. Obwohl sich Raphaela Edelbauer in ihrem Text auf spezifische Orte bezieht, ist ihr Roman auch eine Parabel auf Österreich und den Umgang der Österreicher*innen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit.
Wie streng sind Sie in der Bearbeitung Ihrer Texte, Raphaela Edelbauer?
In ihrem magisch-realistischem Debütroman „Das flüssige Land“ wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu einer beinahe kafkaesken Suche nach Zusammenhängen. Sara Ostertags Inszenierung im Kasino ist die erste Bühnenadaption des gefeierten Romans. Weiterlesen...
Für Sara Ostertag, die wir eine Woche vor der Premiere im Kasino treffen, ist vor allem ein Aspekt aus dem Groß-Einländer Mikrokosmos zentral: Raphaela Edelbauers Roman kreise, so Ostertag, um eine Frage, die zu stellen man niemals aufhören dürfe – nämlich „Wo kommen unsere Biografien her?“. Sie ergänzt: „Wenn sich in Österreich geborene Menschen mit ihrer Geschichte und ihren Ahnen auseinandersetzen, landen sie unweigerlich im Nationalsozialismus. Und damit auch bei der Frage nach den Haltungen ihrer Großeltern und Urgroßeltern. Jene Stimmen, die das Geschehene verleugnen oder als längst vergangen abtun, lässt Raphaela Edelbauer am Ende ihres Textes zwar verstummen, dennoch sagt sie mit ihrem Text ganz klar, „dass die Auseinandersetzung damit niemals enden darf.“
Zur Person: Sara Ostertag
ist Theatermacherin in Österreich, Deutschland, Belgien und der Schweiz. Sie studierte Theaterregie und Choreografie in Zürich und Amsterdam, graduierte bei Milo Rau und forschte an der School for New Dance Development sowie an der Akademie der Bildenden Künste Wien in der Klasse für Performancekunst. Sie ist Mitbegründerin des mehrfach ausgezeichneten Kollektivs makemake produktionen, arbeitet als freischaffende Regisseurin und hat zudem die künstlerische Leitung des SCHÄXPIR Festivals für junges Publikum in Linz inne.
Das empfindet die Regisseurin auch deshalb als so ungemein wichtig, weil es schon bald keine Zeug*innen mehr geben wird, die von dieser Zeit erzählen können. „Die Gespräche mit meiner im vergangenen Sommer verstorbenen Großmutter haben sehr zu meinem politischen Bewusstsein beigetragen. Meine Tochter wird diese Gespräche nicht mehr führen können.“ Daher sei es, ist Sara Ostertag überzeugt, umso wichtiger, dass es künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema gibt, die nicht nur die Narrative selbst, sondern auch ihre Zwiespältigkeit verhandeln. „Nicht um anzuklagen, sondern um der Komplexität der Fragestellung und ihrer immens tiefen Verwurzelung immer wieder Raum zu geben“, fügt sie hinzu.
Gegen- und Zwischenwelten
Ruth verliert sich jedoch nicht nur in ihren Nachforschungen und der Suche nach einem Füllmittel für den alles verschlingenden Hohlraum, sondern auch in der Zeit. Ihr schwindendes Zeitgefühl erinnert an die Geschichte Hans Castorps aus Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Raphaela Edelbauer spiele, so Ostertag, zudem auch immer wieder mit dem Verschwimmen von Jahreszahlen und der Ungenauigkeit von Erinnerungen. „Die Auseinandersetzung mit der Zeit und die Frage nach möglichen Gegenwelten wie auch jene nach den großen Zusammenhängen unserer Welt verhandeln wir zu großen Teilen in der Musik.“
Die Kompositionen kommen, wie auch schon beim Stück „Die Milchfrau“, vom Musiker und Multiinstrumentalisten Paul Plut, der zudem für die Live-Musik auf der Bühne verantwortlich zeichnet. „Paul und ich teilen eine gewisse Faszination für Geister- und Zwischenwelten. Es zieht uns ins Düstere, dorthin, wo es schirch ist, um dort dann aber auch Wärme zu finden“, erzählte Sara Ostertag in einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse.
Musik und Choreografie haben in ihren Inszenierungen stets einen großen Stellenwert. „Ich mag es gerne, wenn auf der Bühne Dinge passieren, die verschiedene Sinne und Regionen ansprechen. Die unterschiedlichen Mittel, die ich benutze, sollen alle ihren Raum haben, um den Inhalt gleichermaßen voranzutreiben“, bringt die Regisseurin ihre Herangehensweise auf den Punkt. „Ich bin keine Theatermacherin, die rein vom Text ausgeht.“ Dass der Text in ihrer Inszenierung von „Das flüssige Land“ ein wenig mehr Raum einnimmt als bei vielen ihrer bisherigen Produktionen, sei einerseits der Bedeutung der Sprache in dem Roman geschuldet, läge aber auch daran, dass es wichtig sei, gewisse Dinge faktisch zu verstehen, wenn es um wichtige politische Fragestellungen geht.
Brüche in der Sprache
Die Bühnenfassung entstand in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Jeroen Versteele, Raphaela Edelbauer ließ dem Team komplett freie Hand. „Es war nicht ganz einfach, aus dem Roman eine Fassung zu machen, weil er wahnsinnig mäandert“, erinnert sich die Regisseurin an den Prozess. Nach und nach kristallisierte sich immer stärker heraus, dass die Art und Weise, wie die Menschen miteinander sprechen, in der Inszenierung ausreichend Platz bekommen soll. „Da geht es unter anderem um Brüche in der Sprache, die beispielsweise dann entstehen, wenn man länger nicht an einem Ort war und dann wieder an diesen zurückkehrt.
Darüber hinaus gibt es in dem Roman auch viele Situationen, in denen die Menschen aneinander vorbeireden und Phrasen repetiert werden, die wir alle schon mindestens 80-mal gehört haben. Den Ton dieser Gespräche muss man treffen, sonst ist es komisch“, sagt Sara Ostertag und verabschiedet sich wieder in die Probenarbeit, die ja im Grunde auch so etwas wie ein flüssiges Land ist. Nicht im Sinne des Verdrängens und Verschüttens, vielleicht aber was die Bewegung von Textmassen und die Beweglichkeit von Körpern auf fragilem Untergrund angeht.