Thomas Jonigk wirkt gar nicht wie jemand, der gerade einen 100-Meter- Sprint hingelegt hat, sondern ziemlich gelöst und entspannt. Kurz: so, als müsste er nicht mehr laufen, weil eh alles läuft. „Eh“ sagt er als gebürtiger Norddeutscher, der die letzten vier Jahre vor allem in Köln verbracht hat, natürlich nicht. Noch nicht, sollte man vielleicht sagen, denn in Kürze wird der Dramaturg, Autor und Regisseur seinen Lebensmittelpunkt in jene Stadt verlegen, in der man generell ungern sprintet, weil sich „eh alles immer irgendwie ausgeht“. Richtig, nach Wien.

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Start mit „Hamlet“

Doch nun zurück zum eingangs erwähnten 100-Meter-Lauf: So ähnlich dürfte es sich nämlich anfühlen, wenn man weniger als eineinhalb Jahre zur Verfügung hat, um eine ganze Burgtheatersaison aus dem Hut zu zaubern. Thomas Jonigk, der Stefan Bachmann als Chefdramaturg ans Burgtheater begleiten wird, hat zwar den Hut auf, wenn es um die Zusammenstellung des Spielplans geht, ist jedoch nicht für seine magischen Fähigkeiten bekannt – es sei denn, es geht um Bühnenzauber. Ohnedies möchte er lieber das Positive an der Situation herausstreichen: „Das kann auch hilfreich sein, weil man dadurch gar nicht erst ins Grübeln, Zweifeln und Abwägen kommt, sondern sagen muss: Das ist eine gute Idee, und bei der bleiben wir jetzt auch.“ So kam es unter anderem auch zu der Idee, die Spielzeit mit „Hamlet“ zu eröffnen, fügt er hinzu. „Es ist nicht nur eines der berühmtesten und emblematischsten Stücke der Theatergeschichte, sondern auch eines, das wie kaum ein anderes Stück auf das Wesen des Theaters referiert.“ Karin Henkel, deren Theaterkarriere als Regieassistentin in Wien begann, die seither aber nicht mehr am Burgtheater inszenierte, wird das Stück auf die Bühne bringen.„Parallel dazu haben wir nach anderen Stücken gesucht, in denen es um Kunst und die Lust an der Verwandlung geht, und kamen schnell auf Virginia Woolfs‚ Orlando‘. Als Therese Willstedt, mit der wir ohnehin arbeiten wollten, sofort darauf ansprang, stand die Eröffnung.“

Stefan Bachmann ist kein Intendant, der versucht, einem Haus seinen eigenen Geschmack aufzuzwingen.

Thomas Jonigk, ab der Saison 2024/25 Chefdramaturg des Burgtheaters

Danach ging es rasch darum, wie viele Inszenierungen aus dem Kölner Repertoire man nach Wien mitnehmen möchte. Das hing, so Jonigk, unter anderem damit zusammen, ob der jeweilige Stoff auch in Österreich funktioniert. „Darüber hinaus haben wir darüber nachgedacht, wie wir Stefan Bachmann, dessen letzte Wiener Arbeit schon etwas länger zurückliegt, dem Publikum möglichst breit gefächert vorstellen können“, fasst er zusammen. Die Wahl fiel auf die mit dem Faust-Theaterpreis ausgezeichnete Inszenierung „Johann Holtrop“, die Komödie „Der eingebildete Kranke“ und die Uraufführungsinszenierung von „Akıns Traum vom Osmanischen Reich“.

Neues und Bekanntes

Mit Mateja Koležnik, Jan Bosse und Barbara Frey setzen Stefan Bachmann und Thomas Jonigk unter anderem auf Regiekräfte, die das Burgtheater und sein Ensemble bereits gut kennen. Zu den Burgdebütant*innen gehören unter anderem Ersan Mondtag und Fritzi Wartenberg. Die Absolventin des Max Reinhardt Seminars wirft gemeinsam mit der gefeierten österreichischen Autorin Mareike Fallwickl einen feministischen Blick auf jene Kaiserin, die man vor allem als „Sissi“ kennt, die in Wahrheit aber „Sisi“ und eigentlich „Elisabeth“ hieß. Und so heißt auch das Stück, das im Burgtheater zur Uraufführung kommt. Mit Rufzeichen. „Der Text wird für Stefanie Reinsperger geschrieben, die sowohl die Autorin als auch die Regisseurin sehr schätzt. Als ich ihr davon erzählt habe, ist sie aus allen Wolken gefallen“, erinnert sich Thomas Jonigk, der sich sichtlich freut, dass dieses Projekt zustande gekommen ist.

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Burgtheater Ensemble

Foto: Tommy Hetzel, Susanne Hassler-Smith

Nils Strunk und Lukas Schrenk, denen es mit ihrer Interpretation der „Zauberflöte“ mit Sicherheit gelungen ist, dass sich Mozart bei jeder (ausverkauften) Vorstellung im Grabe mit- statt umdreht, werden eine Adaption der „Schachnovelle“ auf die große Bühne bringen.„Das ist ein Text, der sonst meist sehr elegisch umgesetzt wird, bei Nils wird er eher etwas Getriebenes haben“, verrät Thomas Jonigk. Er selbst wird im Akademietheater „Egal“ und „Ellen Babić“, zwei Stücke von Marius von Mayenburg, inszenieren, die bei der Premiere als Doppelabend gezeigt werden.

Mina Salehpour, deren Regiearbeiten in Köln mehrfach zu sehen waren, wird ihre Arbeit in Wien fortsetzen, freut sich Thomas Jonigk. Die deutsch-iranische Regisseurin überzeugt mit bildgewaltigen Inszenierungen, die jedoch niemals brachial, sondern immer sinnlich und poetisch daherkommen; und bei aller Sinnlichkeit sind sie gleichzeitig immer politisch.

Der letzten Inszenierung im großen Haus ging ein Freibrief voraus – ausgestellt von keiner Geringeren als Elfriede Jelinek. „Burgtheater“, das von der Autorin eigentlich für Aufführungen gesperrte Stück, wird, inszeniert von Festwochen-Intendant Milo Rau, zum ersten Mal am titelgebenden Haus zu sehen sein. „Milo hat einen sehr freien Zugang, das hat uns Elfriede Jelinek auch zugestanden. Wie immer bei seinen Arbeiten wird er sehr viel weiter gehende politische Statements machen“, hält Thomas Jonigk fest.

Das Vestibül bleibt – auch deshalb, weil das Kasino aufgrund von Sanierungsarbeiten in dieser Spielzeit nicht zur Verfügung steht – das Hauptquartier für Theater für junges Publikum. Grundsätzlich gebe es aber ohnehin den Plan, mehr in die Stadt zu gehen, so Jonigk. Unter dem Titel „Community und Bildung“ soll das Theater noch mehr geöffnet und theaterfremde Gruppen ans Haus gebunden werden. Anna Manzano und Saliha Shagasi werden diesen Bereich leiten und damit viel zur Öffnung des Burgtheaters beitragen. „Genauso wichtig ist uns Inklusion“, merkt er an. „Deshalb werden wir ein Professionalisierungsprogramm für Menschen mit kognitiven und körperlichen Behinderungen starten, um sie auf Castings und Vorsprechen vorzubereiten. Ich finde, dass wir da als das größte Haus der Stadt eine große Verantwortung haben.“

Burgtheater Ensemble

Foto: Tommy Hetzel, Susanne Hassler-Smith

Vom Wesen her ist die Stadt dramatisch.

Thomas Jonigk über Wien

O du dramatisches Wien

„Das klingt jetzt alles sehr nach Baukastenprinzip“, fügt er lachend hinzu. „Aber das ist es auch ein bisschen. Man versucht die eigenen Interessen mit den lokalen Gegebenheiten in Übereinstimmung zu bringen.“

Weil man in der ersten Spielzeit noch viel aus dem vorhandenen Repertoire weiterspielen wird und sich Stefan Bachmann zudem dazu entschieden hat, mit vielen vertrauten Künstler*innen weiterzuarbeiten, brauche es Zeit, bis eine neue Handschrift sich abzeichnen kann, hält er ohne Umschweife fest. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Ich glaube, dass man als Leitung zunächst viel mehr Arbeit nach innen zu machen hat. Man etabliert eigene Kommunikationsstrukturen, dadurch entstehen nach und nach neue Dynamiken und auch eine neue Energie, die man indirekt irgendwann auch im Zuschauerraum spüren wird.“

Stefan Bachmann beschreibt er als „absoluten Teamplayer“. Er setzt nach: „Stefan ist jemand, der starke Leute um sich herum haben möchte und sie auch eigenständig arbeiten lässt. Sonst würde ich diesen Job, den ich vor allem als kreativen Beruf schätze, auch gar nicht machen wollen. Außerdem weiß er genau, was er will, und ist sehr klar in seiner Kommunikation.“

Der Chefdramaturgie hatte der 58-Jährige im Übrigen bereits abgeschworen. „Nach meiner Zeit am Schauspielhaus habe ich beschlossen, dass ich lieber frei arbeiten möchte“, erzählt er lachend. Das lag jedoch nicht am Schauspielhaus und schon gar nicht an Wien. „Wien ist eine der schönsten Städte, die es gibt“, schwärmt er. Als kunstschaffender Mensch empfände er es als großes Geschenk, dass Kultur in der Stadt so einen großen Stellenwert hat und teilweise auch so emotional besprochen wird. „Vom Wesen her ist die Stadt dramatisch.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Außer vielleicht: na eh.

Thomas Jonigk
Thomas Jonigk ist der künftige Chefdramaturg des Wiener Burgtheaters.

Foto: Privat

Zur Person: Thomas Jonigk

Als Chefdramaturg ist Thomas Jonigk Leiter der Dramaturgie und u. a. für die Zusammenstellung des Spielplans verantwortlich. Er begann seine Theaterlaufbahn mit der Theatergruppe „Theater Affekt“, zu der auch Stefan Bachmann gehörte. Er war Chefdramaturg am Wiener Schauspielhaus, arbeitete frei und war zuletzt Leiter der Dramaturgie am Schauspiel Köln.