Jeder Schuss ein Treffer. Auf Eadweard Muybridge, dem es als allerersten Fotografen gelang, ein galoppierendes Pferd ohne Bewegungsunschärfe zu fotografieren, traf das nicht nur in beruflicher Hinsicht zu. 1874 erschoss der häufig als „Vater des Kinos“ bezeichnete Pionier der Fotografie seinen Nebenbuhler Harry Larkyns. Und fügte seinem umfangreichen Pool an Fotomotiven nun ein Mordmotiv hinzu: Eifersucht. Es folgte ein spektakulärer Mordprozess.

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Weil er den Gedanken so spannend fand, dass das bewegte Bild, wie wir es heute kennen, aus dem Geist eines Mörders geboren wurde, kam Kay Voges vor etwa drei Jahren mit dieser ungewöhnlichen Verknüpfung auf den Dramaturgen Alexander Kerlin zu, der daraufhin begann, ein Stück über Eadweard Muybridge zu schreiben. Auch die ikonische Szene aus dem Film „Matrix“, in der Keanu Reeves einer von mehr als hundert Kameras gefilmten Pistolenkugel ausweicht, geisterte sogleich im Raum herum.

„Interessant fand ich auch, dass der Eisenbahn-Tycoon Leland Stanford, der die Stanford University in Palo Alto begründete, der entscheidende Geldgeber von Muybridge war“, weist Alexander Kerlin auf eine weitere Ebene der Ge- schichte hin. Somit ist der Ursprungsort des bewegten Bildes auch jener Ort, von dem aus heute – via Facebook, Instagram und Co – unablässig Bilderfluten in die Welt strömen. „Diese Bilder sind jedoch nicht unschuldig, denn sie bewirtschaften uns, indem wir auf Werbungen klicken, Dinge kaufen und unsere Daten hinterlassen“, fügt der Dramaturg und Autor hinzu. Auch diese Ebene spiele in das Stück hinein. „Man könnte sagen, dass in meinem Stück die Bilder selbst vor Gericht stehen“, bringt er es auf den Punkt, hält einen Moment inne und kommt kurz darauf auf einen weiteren Aspekt zu sprechen: „Vor meiner Auseinandersetzung mit Eadweard Muybridge war mir auch nicht klar, dass zeitgleich mit der Erfindung der Fotografie auch die Retusche erfunden wurde. Fotografie und Lüge waren also von Anfang an aneinandergekoppelt.“

Die manipulative Kraft von Bildern war es auch, die Kay Voges als Regisseur von „Bullet Time“ besonders interessierte. „In der Inszenierung werden Bilder produziert, gleichzeitig bekommt das Publikum aber auch mit, wie sie gemacht werden“, gewährt Alexander Kerlin erste Einblicke.

Die Welt festhalten

Drei Jahre hat er an dem Stück gearbeitet. „Ich habe lange gerätselt, was der beste Zugang sein könnte, und mich dann dazu entschieden, mit dem Gerichtsprozess in die Geschichte einzusteigen – um einen dramatischen Motor zu haben, der das Stück vorantreibt“, erinnert er sich an die Anfänge des Schreibprozesses zurück. Insgesamt sei es sein Bestreben gewesen, ein „Stück für Schauspieler*innen“ zu schreiben – „mit saftigen Figuren und viel Suspense“.

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Seit „hell / ein augenblick“, das 2017 in Dortmund uraufgeführt wurde, beschäftigen sich Kay Voges und Alexander Kerlin immer wieder mit den Schnittstellen zwischen Theater und Fotografie.

„Ich finde, dass man nirgendwo so gut über Wahrnehmung und das Verhältnis von Realität und Bild nachdenken kann wie im Theater, wo das Kunstwerk und die Erschaffung des Kunstwerks eins sind“, sagt Kerlin, der – passend zum Stück – im Interview einen druckreifen Satz nach dem anderen abfeuert. In den Figuren von Muybridge und Larkyns stehen sich in „Bullet Time“ die Fotografie und das Theater auch gegenüber, ergänzt er. „Es ist ein fiktiver Dialog, in dem Larkyns zu Muybridge sagt, dass dieser mit dem Theater vermutlich deshalb nichts anfangen könne, weil er es nicht, wie ein Foto, über seinen Kamin hängen kann. Im Gegensatz zum Theatermenschen Larkyns möchte Muybridge die Welt festhalten und konservieren.“

Ein Gedanke, den auch Alexander Kerlin kennt. „Nach fast zwanzig Jahren als Dramaturg am Theater frage ich mich schon manchmal, wo nun eigentlich das Werk ist, auf das man zurückblicken kann. Mit diesem Stück etwas zu haben, das vielleicht bleibt, gibt mir sehr viel Ruhe.“

Der Startschuss für die neue Volkstheater-Saison fällt im Übrigen am 7. September. Und das war wohl noch nie wörtlicher zu verstehen.

Hier zu den Spielterminen von Bullet Time. Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders!