Omer Meir Wellber: Ich sehe nie das Nichts. Ich sehe immer das Mögliche.
Omer Meir Wellber, der neue Musikdirektor der Wiener Volksoper, im Gespräch: Warum er Lotte de Beer absagen wollte, was er mit dem Orchester plant, warum er stets neue Partituren kauft, wie sein Lieblingswitz geht und warum ihm schnell fad ist.
Lassen Sie uns doch diese Geschichte mit einem jüdischen Witz beginnen! Der kleine Moische wird von seiner Lehrerin gefragt: „Moische, wie viel ist zwei plus zwei?“ Der kleine Moische überlegt hin und her und antwortet: „Sieben!“ Die Lehrerin schüttelt den Kopf, schaut den kleine Moische liebevoll an und sagt: „Zwei und zwei ist vier. Manchmal fünf. Aber niemals sieben!“
Omer Meir Wellber hat den Witz bei der Programmpräsentation der neuen Volksoper erzählt, als er sich bei einer Aufzählung in den Zahlen verlor. Der Witz hat dem Event den Druck genommen und ihm jene Leichtigkeit gegeben, für die die Ära von Lotte de Beer steht. Die quirlige Niederländerin hat Omer Meir Wellber als Musikdirektor an das Haus am Gürtel geholt. Ein Coup, in künstlerischer und auch finanzieller Hinsicht. Letzteres, weil ein Teil von Wellbers Gage von einem privaten Sponsor getragen wird. Ersteres, weil er einer der meistbeschäftigten und spannendsten Dirigenten der Jetztzeit ist: Music Director des Teatro Massimo in Palermo und bis vor kurzem auch Erster Gastdirigent der Semperoper Dresden und Chefdirigent des BBC Philharmonic; selbst an der Wiener Staatsoper dirigiert er: im April 2023 dreimal den „Lohengrin“ mit Piotr Beczała in der Titelrolle.
Seine erste Produktion an der Volksoper ist „Jolanthe und der Nussknacker“. Wir haben Omer Meir Wellber zum Interview getroffen.
Man sagt, dass Sie sich sehr schnell langweilen. Geben Sie uns bitte Bescheid, wenn das Interview gar zu öde wird …
(Lacht.) Gerne. Mein Problem ist: In meinem Leben geht alles sehr schnell. Ich brauche immer was Neues.
Haben Sie ADHS?
(Lacht laut auf.) Die Frage ist: Was suche ich in meinem Leben? Und Wiederholung ist keine Qualität, die ich in meinem Leben suche …
Dann sind Sie an der Volksoper ja gut aufgehoben. Was werden Sie mit dem Orchester anstellen?
Ich würde gerne einen eigenen, neuen Volksopernsound kreieren. So, dass die Zuhörer sofort sagen: Ah, da spielt das Volksopernorchester. Das bedeutet, diesem Orchester einen unverwechselbaren Klang zu geben. Es ist ja alles da: Das Orchester versteht Timing, es versteht Humor.
Nach solchen Sätzen kommt normalerweise immer ein Aber – ich bin gespannt auf Ihres …
Ich will genau dieses Orchester mit dieser Tradition, und diese Tradition muss weiterleben und sich entwickeln.
Das ist eine sehr philosophische, auch eine sehr praktische Frage. Welche stellen Sie sich gerade?
Wie etwa klingt Operette? Sie hat diese Leichtigkeit, die auch ihre traurigen Ecken und Kanten hat. Die Welt der Operette ist uns Juden sehr nahe, weil wir den Humor sehr oft als Lösung benutzen – genau das passiert in der Operettenwelt auch. Mit diesem Witz kann man auch die traurigsten Sachen sagen, und jetzt sind wir beim Punkt: Ich finde, dieser Ansatz und diese Haltung, wie in der Operette Melodien gebaut sind, wie man in kleine Ecken hineinmusiziert, sind die Lösung des Geheimnisses.
Mozart hat gesagt: Neu ist immer besser. Ist das auch der Grund, warum Sie Partituren sammeln und nie alte verwenden?
(Lächelt.) Ich habe 800 Bücher, aber vielleicht nur 80 Partituren, und die sind alles Geschenke: von Barenboim, von Levin. Ich habe keine eigenen Partituren. Niemals. Jedes Mal kaufe ich eine neue und lasse sie dann beim Orchester. Ich finde, dass es sehr schade wäre, immer wieder aus derselben Partitur zu dirigieren. Und nach jeder Premiere schreibe ich mir auf, was ich das nächste Mal im Stück haben möchte. Die Dinge, die ich erarbeitet habe, bleiben ja in meinem Kopf und in meinem Herzen, und so entwickelt sich das Stück immer weiter. Objektivität ist keine künstlerische Kategorie. Ich versuche mir meine Individualität zu erhalten und will sie weiter suchen – und ich suche sie in der Schönheit. Wissen Sie, ich bin in einer privilegierten Situation: Ich kann machen, was ich schön finde. Ich muss mich nicht mehr erklären.
Aber irgendeine Struktur in der Vorbereitung müssen Sie ja haben?
Sie dürfen Individualität nicht mit Chaos verwechseln. (Lacht.) Um so zu arbeiten, muss man die Partituren und alles andere sehr genau kennen – das ist die Voraussetzung –, aber die Interpretation kommt später. Ich will immer zuerst die Sänger*innen treffen, dann beginnt der kreative Prozess: Um die Schönheit und das Können dieser Menschen baue ich die Interpretation herum. Das funktioniert bei Oper und Operette super, weil ich so immer die Sänger*innen in der für sie besten Rolle und Stimmlage habe.
Ich will Sie in Ihrer Euphorie jetzt nicht bremsen – aber Wien ist eine Stadt, die jedem Neuankömmling ein „Da könnt ja jeder kommen“ entgegenschleudert und ihn dann gerne anrennen lässt.
Ach, wissen Sie: Ich komme aus Be’er Scheva, einer Stadt in der Wüste. Es ist ein Ort mit vielen Kulturen und Menschen aus Afrika, Russland, Europa. Es ist eine sehr arme Stadt, und wenn man dort etwas machen will, muss man es selbst in die Hand nehmen. Nichts ist umsonst.
Auch mein Elternhaus hat mich geprägt: Mein Vater hat mich nicht an die Musikschule in Tel Aviv geschickt, sondern ich bin vor Ort in Be’er Sheva geblieben. Als Musiker, als Zauberer auf Geburtstagspartys. Es gibt da eine Grundhaltung bei uns Wüstenkindern. Ben-Gurion hat gesagt: „Wenn normale Menschen in die Wüste kommen, dann sehen sie nichts. Wenn wir in die Wüste kommen, dann sehen wir Potenzial.“ So ist das mit mir und den Partituren und neuen Orchestern und neuen Aufgaben: Ich sehe nie, was fehlt. Ich sehe nur, was man tun kann. Aber dieses Ziel kann man nicht durch Druck erreichen, sondern durch das Sehen und das Suchen von Stärken.
Lotte de Beer hat mir erzählt, dass Sie eigentlich nur zum Vorstellungsgespräch gegangen sind, um abzusagen. Echt jetzt?
Ja, das ist richtig. Aber dann hat mich Lotte mit ihrer Energie und ihren Ideen einfach mitgerissen, und ich habe das Gespräch mit einer Zusage verlassen. (Grinst.) Früher hatte ich sehr viele Gastdirigate. Jetzt habe ich mit Palermo, der BBC und Wien ein paar richtige Adressen. Ich sehe viel Arbeit, aber auch viele tolle Möglichkeiten. Ich fühle mich privilegiert.
Zur Person: Omer Meir Wellber, 40
ist in Be’er Scheva (Israel) am Rande der Negev-Wüste aufgewachsen. Als Kind lernt er Geige, Akkordeon und Klavier. Er ist Musikdirektor des Teatro Massimo in Palermo. Seit 1. September ist er Musikdirektor der Volksoper.