Angelika Hager: Mich hätten Sie sehen sollen!
Über die voyeuristische Lust an Theater-Anekdoten und die Überzahl an Mimen-Memoiren.
Jahr für Jahr winsle ich meinen Sommer-Nachbarn im Vöslauer Kabanien, den Burgschauspieler Roland Koch, an, dass er sie erzählt, die Geschichte vom Gastspiel in Sibirien. Manchmal lässt er sich ein bisschen bitten, doch die Story ist wie roter Wein: Sie wird von Jahr zu Jahr besser. Also: 2011 gastierte das Burgtheater mit Heinrich von Kleists Gerichtsfarce über Korruption und moralische Verkommenheit, „Der zerbrochne Krug“, im rauen Omsk in Sibirien; mit Michael Maertens im Part des Dorfrichters Adam, Regie: Matthias Hartmann. In Russland brodelte es zu dieser Zeit, denn damals durfte noch, im Verhältnis zu heute, ohne massive Freiheits- und Lebensbedrohung demonstriert werden; Herrn Putin wurde Wahlschwindel vorgeworfen. Im heutigen Lichte seines Angriffskriegs gegen die Ukraine ein Kavaliersdelikt.
Nach der Omsker Kleist-Vorstellung war eine Publikumsdiskussion angesagt und das Burg-Ensemble fieberte in Vorfreude einem von den aktuellen Ereignissen erhitzten Diskurs über Machtmissbrauch und die Aufgaben der Kultur in autokratischen Systemen entgegen. Doch aus der ohnehin überschaubaren Masse der verbliebenen Zuschauer kam nach längerem Schweigen nur eine Frage, die noch dazu von einem leichten Ton des Vorwurfs angekränkelt war: „Wo bitte ist Martin Wuttke?“ Nachdem man dem Fragenden eilfertig mitgeteilt hatte, dass Herr Wuttke einfach nicht Teil der Besetzung und er deswegen zu Hause geblieben sei, wurde es für eine Weile still.
Dann klirrte seine zweite Frage in den Raum, inzwischen in der Bluttemperatur ungeduldig: „Aber wie geht es Martin Wuttke?“ Nach Beschwichtigungstiraden aller Beteiligten, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gebe, Herrn Wuttke erfreue sich bester Gesundheit, bekam Roland Koch von dem Hardcore-Wuttke-Fan eine Flasche Wodka in die Hand gedrückt, für die er sich überschwänglich bedankte. Man werde sie später mit den anderen Kollegen mit Freude verkosten. Njet. Denn die Replik des grimmig Blickenden lautete:
„Ist aber für Martin Wuttke.“
Man zerscheppert sich jedes Mal vor Vergnügen, denn Roland Koch ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Wenn man ein bisschen Anstandszeit verstreichen lässt, bekommt man quasi zum Dessert die „Cyrano“-Partystory (Sie erinnern sich vielleicht: Bechtolfs mittelmäßige Regie, Klaus Maria Brandauer als poltergeisternder Titelheld). Ich darf nicht zu viel verraten, aber es spielen folgende Dinge und Personen eine Rolle: eine Magnum eines seltenen Rotweins, weinende Wirtsleute, kotzende Extras und ein Billa-Einkaufswagerl im Morgengrauen am Naschmarkt.
Meinen Vorschlag, nein, meine flehende Bitte, all sein Anekdoten-Arsenal in ein Buch zu gießen oder zumindest einen Theatermonolog zu gestalten, tut Koch dann regelmäßig mit den Worten ab: „Gibt es nicht schon genug Schauspieler, die Erinnerungsbücher schreiben?“ Da hat er tatsächlich nicht unrecht. Jahr für Jahr wird der Markt mit Mimen-Memoiren überschwemmt, wo im schlimmsten Fall in wikipediaartigen Abarbeitungen immer wieder so eine Mich-hätten- Sie-sehen-sollen-Koketterie durchbricht. Und schon bald scharen sich einige dieser Bände dann auf den Wühltischen der Buch-Outlets in der Fünf-Euro-Abteilung.
Aber wenn sie gut sind und einen nicht mit hochtrabenden Bedeutsamkeitsblähungen ersticken, ist eine solche Nachmittagslektüre ein großes Vergnügen. Joachim Meyerhoff ist sicher der Spitzenreiter in Sachen biografischer Wühlarbeiten mit Pfiff in der Darstellungsbranche. Auch sein jüngstes, sechstes Buch, wenngleich nicht sein bestes (unübertroffen: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“), mit dem Titel „Man kann auch in die Höhe fallen“ vergönnt einem, neben reichlich Befindlichkeitsprosa und luxuriösem Lebensekel, in absurd-tragisch-komischen Szenen genussvolle Blicke hinter die Theaterkulissen.
In der „Lücke“ bilanzierte er seine Münchner Schauspielschuljahre, eingebettet im elegant-schrulligen Bildungsbürgerhaushalt seiner Großeltern, die so viel Stil besaßen, dass sie ihre Tabletten (und das waren nicht wenige) mit Champagner hinunterspülten. Die beste Story aus Band 6 ist jene Geschichte vom Applaussammler des Ost-Berliner Gorki-Theaters, die Meyerhoff mit großer Zärtlichkeit zu erzählen versteht.
Der Applaussammler hat in den Jahren seines DDR-Theaterlebens ein akustisches Archiv des Klatschens erstellt und konnte der Intensität des jeweiligen Applauses die entsprechende Aufführung zuordnen. Welch selbstironischer Akt, dass Meyerhoff in Ayad Akhtars „Der Fall McNeal“ (Burg-Premiere: 1. März) einen narzisstischen Schriftsteller in Lebens- und KI-Krise zeigt.
Zur Person: Angelika Hager
Sie leitet das Gesellschaftsressort beim Nachrichtenmagazin „profil“, ist die Frau hinter dem Kolumnen- Pseudonym Polly Adler im „Kurier“ und gestaltet das Theaterfestival „Schwimmender Salon“ im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).
Man kann mit einer raumfüllenden One-Man-Show rechnen, die an Meyerhoffs bravourösen Hochseilakt von „Die Welt im Rücken“ nach dem Roman von Thomas Melle, ebenfalls in der Regie von Jan Bosse, vor einigen Jahren erinnert. Übersetzt hat das Stück dankenswerterweise Daniel Kehlmann, dessen letzter Roman „Lichtspiel“ die teils fiktive, teils faktenbasierte Biografie der deutschen Stummfilm-Legende G.W. Pabst zur Grundlage hat. Man kann dieses Buch, ohne zu übertreiben, ein Meisterwerk nennen, das das Kräftemessen zwischen Kunst, Moral und dem Willen zur Verkommenheit und die Situationselastizität eines Künstlers während einer Diktatur erfahrbar macht – und das ohne zu moralisieren.
Zurück zum Memoirenbusiness. Mit dem Titel macht man bereits einige Meter. Oder auch nicht. Bis heute habe ich den etwas sperrigen Titel der Biografie von Klaus Maria Brandauer, „Bleiben tu’ ich mir nicht“, auch tatsächlich nicht verstanden. Zu kryptisch. Mein Liebling ist da eindeutig Maria Happels „Das Schnitzel ist umbesetzt“. Happel bezieht sich da auf Peymanns obligates Tyrannenritual, das jeder „Claus Peymann kauft sich eine Hose“-Aufführung voranging.
Sie hatte dieser Thomas-Bernhard-Produktion über Jahrzehnte im Part der Zeremonienmeisterin angehört: Einmal war das Schnitzel zu groß, das andere Mal nicht in der richtigen Panierkonsistenz, das dritte Mal zu dunkel geraten; häufig endet das Lamento mit dem völlig spaßbefreiten Befehl „Das Schnitzel ist umbesetzt!“. Peymann ist ja generell Spezialist für die Abteilung „Meine Sorgen möchte ich haben“, in dem Sinn, dass er aus winzigen Problemen und echten Petitessen „spielentscheidende“ (so seine Assistentin) Dramen produziert.
Apropos: Falls Sie wissen wollen, unter welchen Umständen der grimmige Omsker Mitbürger eine solche monogame Obsession zu Martin Wuttke entwickelt hat: Ich kann Ihnen da beim besten Willen nicht helfen. Da müssen Sie schon Herrn Koch fragen.