Unverstellte Autorität. Adi Hanan kommt direkt vom Training in den Ballettsaal. Nach einem lächelnd-leisen Gruß streift sie ihre bequemen Schuhe ab, schlüpft in schwarze Pumps und steht wenige Minuten später kopfüber auf dem Tisch. Die aus Israel stammende Tänzerin des Wiener Staatsballetts wartet nicht auf Anweisungen des Fotografen, sondern bietet an: Mimik, Gestik, Körperspannung. Zurzeit schläft sie wenig, weil sie zwei Berufe koordinieren muss, denn seit sie 2022 im Rahmen von „Plattform Choreographie“ mit ihrem Erstlingswerk „Shadows“ nicht nur Ballettdirektor Martin Schläpfer beeindruckte, nimmt auch die Laufbahn als Choreographin Fahrt auf. „Mir war gar nicht bewusst, dass diesbezüglich ein Talent in mir schlummerte, sondern ich bin einfach jemand, der es mag, Neues auszuprobieren. Als ich die Chance dazu bekam, merkte ich, dass es ganz neue Facetten in mir eröffnete, ich fühlte mich, anders als sonst, ruhig und geerdet. Als Balletttänzerin muss man vor allem die Vorstellungen anderer erfüllen. Plötzlich stand ich zum ersten Mal selbst im Zentrum.“

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Imagination und Phantasie seien für eine Choreographin wohl die wichtigsten Voraussetzungen. „Ich sehe im realen Leben oft andere Dinge als mein Umfeld. Auf einer Baustelle erkenne ich zum Beispiel diverse Kreaturen, in einer Regenpfütze schwimmen für mich bunte Fische. Daraus kann ich Ideen für meine Arbeit schöpfen.“
Nach „Shadows“ habe sie dermaßen viel positives Feedback bekommen, wie sie sich das nie hätte vorstellen können. „Die Menschen waren berührt und haben mich regelrecht mit Liebe überschüttet“, ist sie heute noch überwältigt von den Reaktionen.

Im Garten Eden

Ihre zweite Arbeit als Choreographin wird ab 8. Mai, integriert in den regulären Spielplan der Volksoper, gezeigt. „Les Sylphides“ heißt das tänzerische Triptychon des Wiener Staatsballetts bestehend aus Michel Fokines titelgebender Choreographie, die als erstes handlungsloses Ballett der Tanzgeschichte gilt, Adi Hanans „Eden“ und „Jeunehomme“ von Uwe Scholz. Bühne und Kostüme des letztgenannten Stücks stammen übrigens von Karl Lagerfeld.

Adi Hanan
Choreographin und Tänzerin: "Solange ich beides machen kann, werde ich mich nicht für eines entscheiden.“

Foto: Andreas Jakwerth

Zur Person: Adi Hanan

war Mitglied des Israel Ballet, des Jerusalem Ballet und der BallettCompagnie Oldenburg, arbeitete mit namhaften Choreograph*innen wie Martha Graham, Alwin Nikolais, Félix Blaska, Jacopo Godani, Raphael Hillebrand oder Martin Schläpfer zusammen und ist seit 2020/21 fix im Ensemble des Wiener Staatsballetts. 2022 stellte sie im Rahmen von „Plattform Choreographie“ mit „Shadows“ ihre erste eigene Choreographie vor.

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„In Israel beginnt man mit dem Bibelstudium in der zweiten Klasse Volksschule und hört nicht mehr damit auf, bis man achtzehn ist“, erklärt Adi Hanan.

„Die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden ist einfach brillant, wenn man sie nicht nur oberflächlich betrachtet, sondern ein wenig in die Tiefe geht. Die Verführung samt darauffolgender Vertreibung aus dem Paradies ist lediglich die Spitze des Eisbergs, hintergründig geht es um die Bewusstwerdung zweier Menschen. Der Apfel symbolisiert doch nichts anderes als die Sexualität. Und wenn wir mit Sexualität in Berührung kommen, verändert uns das zweifelsohne für immer. Wir sind dann nicht mehr die naiven Kinder, die völlig unbedarft nackt am Strand herumtollen. Warum aber sollte Sexualität nur mit Fortpflanzung zu tun haben, wieder nur zu Schmerz und Schweiß führen, wie uns die Bibel suggeriert? Durch Sexualität lernt man vielmehr eine Intimität jenseits des bis dahin ‚normalen‘ Lebens kennen. Und genau das will ich zeigen.“

Tanz ist meine Definition. Das, was mich ausmacht, was ich bin.

Adi Hanan, Tänzerin und Choreographin
Adi Hanan
Ab 8. Mai in der Volksoper: Les Sylphides.

Foto: Andreas Jakwerth

Zwei Stämme, einen weiblich dominierten und einen vorwiegend männlichen, präsentiert Adi Hanan in ihrer tänzerischen Umsetzung. Der erste Teil sei eher minimalistisch gehalten, es gehe um durchaus stereotype Definitionen von Weiblichkeit und Männlichkeit; im zweiten komme es dann erstmals zu Berührungen untereinander und damit verbunden auch zu physischen Machtkämpfen. Erst im dritten Teil von„Eden“, nachdem die Tänzerinnen Bekanntschaft mit dem verführerischen Apfel gemacht haben, kommt ein Paar zum Vorschein, das nun ein Pas de deux tanzt. „Zum ersten Mal sind beide gleichgestellt, es gibt keine Auseinandersetzungen mehr, die Geschlechter sind aufgehoben, zwei Menschen verschmelzen zu einem. Es herrscht Frieden.“ Als Musik hat Adi Hanan Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ und „Spiegel im Spiegel“ des zeitgenössischen estnischen Komponisten Arvo Pärt ausgewählt.

Kollegiale Anweisungen

Die „Eden“-Hauptcharaktere werden von Claudine Schoch und Marcos Menha getanzt.„Bei der Auswahl von Tänzern ist mir zuallererst wichtig, dass sie offen sind. Im ersten Teil müssen sie ohne Scham und Beurteilung ihre Körperlichkeit und den Moment des Daseins wirklich feiern. Ich habe also nach Protagonisten gesucht, die sich komplett darauf einlassen können und wollen. Sie alle gut zu kennen ist Vor- und Nachteil zugleich“, meint Adi Hanan.

Wie ist es, Tänzerinnen und Tänzer zu casten, mit denen man am nächsten Abend selbst wieder auf der Bühne steht?

„Man kann es nicht allen recht machen. Aber ich beginne jede Probe mit einer kleinen Ansprache, in der ich erkläre, dass ich ihre Kollegin bin und mir wünsche, dass sie den Arbeitsprozess genießen. Sollte ich jemanden durch eine Aussage verletzen, möchte ich, dass sie zu mir kommen und mit mir darüber sprechen.“

Den aktiven Tanz zugunsten der Choreographie aufzugeben steht für Adi Hanan vorläufig nicht zur Disposition. „Tanz ist meine Definition. Das, was mich ausmacht, was ich bin. Solange ich beides machen kann, werde ich mich nicht für eines entscheiden.“

Adi Hanan
Die aus Israel stammende Tänzerin des Wiener Staatsballetts wartet nicht auf Anweisungen des Fotografen, sondern bietet an.

Foto: Andreas Jakwerth

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