Sind wir Menschen überhaupt lernfähig?
„Leben und Sterben in Wien“ ist ein großes Stück von Horváth’scher Wucht, zwanzigköpfigen Chor inbegriffen. Thema: die Umwälzungen der Zwischenkriegszeit. Erschreckend heutig. Thomas Arzt hat es geschrieben. Wir waren beim Auf-die-Bühne-Bringen mit dabei.
Der letzte Satz.
Die letzte Szene eines Stücks – sie entscheidet, mit welcher Emotion das Publikum nach Hause geht. Rockbands wählen dafür oft ihren größten Hit. Zirkusvorstellungen neigen zu einem leisen, poetischen Finale. Und was wird Anfang März bei der Uraufführung von „Leben und Sterben in Wien“ passieren? Es ist die letzte Jännerwoche, und wir platzen mit unserem Interviewtermin mitten in die Proben des Werks, das Herbert Föttinger – er ist der Regisseur – beim oberösterreichischen Autor Thomas Arzt in Auftrag gegeben hat. „Uraufführungen sind immer bis zur Premiere work in progress. Manches ändert sich, weil man erst im Spielen draufkommt, dass es einen anderen Fluss braucht.“
Dann nimmt Föttinger sein Handy und ruft Thomas Arzt an. Was er mit ihm bespricht, daran lässt er uns nicht teilhaben. Aber es geht um den Schluss.
„Vielleicht sollt’ es ein bisserl raufgehen“, sagt Ulli Maier, die eine zentrale Rolle in dem Stück spielen wird.
Der Schluss im Fluss
Mehr will sie uns nicht verraten. Das macht nichts, weil wir den Angerufenen einen Tag später im Café Europa im 7. Bezirk treffen. „Ich will durch literarische Arbeit nie etwas festigen, sondern eher etwas aufbrechen. Darum finde ich das Gefühl, dass man am Ende im Theater drinnen sitzt und ein Fragezeichen hat, besser, als wenn ein Rufzeichen da ist. Gleichzeitig aber sind wir jetzt wieder in einer Zeit, wo eine politische Haltung schärfer formuliert werden muss, auch weil das Stück in ein Wahljahr hineingesetzt ist. Darum geht es jetzt auch in der letzten Szene. Wir haben in dem Stück sehr starke Frauenfiguren, die gegen viele Widerstände kämpfen und mit ihrer eigenen – auch sehr brutalen – Vergangenheit konfrontiert werden, und es stellt sich die Frage: Muss am Ende auch die Protagonistin Rache nehmen? Was machen wir mit dem Ekel, den wir gesehen haben? Gewalt? Oder geht es um das Dilemma dazwischen: das Ohnmachtsgefühl, das man hat, zu wissen, was alles falsch läuft. Wir wissen ja, was giftig ist, was wirklich gesellschaftszerstörend ist, und gleichzeitig nehmen wir es mit einem Lächeln hin, weil man glaubt, dass großartige Veränderung unmöglich ist.“
Thomas Arzt macht eine kleine Pause und setzt mit einem Lächeln nach: „Ich habe da eine Figur, die am Ende noch ein Statement setzen kann, und ich glaube, die Schraube wird sich in den nächsten Wochen noch mehrmals verändern.“
Zur Person: Thomas Arzt
Thomas Arzt stammt aus Schlierbach in Oberösterreich. Er hat zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele, Bücher und ein Opernlibretto verfasst. Seine Stücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er sagt: „Ich möchte durch meine Arbeit eher etwas aufbrechen, nie etwas festigen.“ Das aktuelle Stück „Leben und Sterben in Wien" spielt in der Zwischenkriegszeit, rund um den Brand des Justizpalasts 1927.
Darum geht’s
Sie sehen, werte Leserin, werter Leser, anhand dieses Beispiels, wie fließend Theaterarbeit sein kann. Vom Ende des Stücks jetzt dorthin, wo das Stück spielt: in die Zwischenkriegszeit. Es sind keine hundert Jahre, die wir die Uhr zurückdrehen müssen. Herbert Föttinger: „Ich wollte immer ein Stück über diese Zeit, die Entstehung des Austrofaschismus. Es gibt meiner Meinung nach viel zu wenig darüber. Wir steigen in die Geschichte im Jahr 1926 ein, in irgendeinem Bauerndorf. Dort lernt die Magd Fanni eine andere Magd, Sara, kennen und durch sie linke und liberale Ideen. Sie beginnt zu lesen. Bücher, die sie gar nicht versteht, aber sie liest sie, weil sie Sara mag. Ihr echter Bildungsweg beginnt erst, als sie nach Wien geht.“
Als der Justizpalast brannte
Was dann passiert, dafür bedarf es eines kurzen historischen Exkurses. Wir schreiben mittlerweile das Jahr 1927. Die Rauchwolke des brennenden Justizpalasts ist weit über die Donau zu sehen. Es ist der 15. Juli 1927, und vor dem Gebäude schräg hinter dem Parlament in Wien liegen 84 tote Demonstrant*innen und fünf tote Sicherheitskräfte. Der Grund für die eskalierte Massendemonstration: ein Freispruch.
Ein paar Monate davor, am 30. Jänner, hatten im burgenländischen Schattendorf (Bezirk Mattersburg) drei Mitglieder der rechten „Frontkämpfervereinigung Deutschland-Österreichs“ das Feuer auf linke „Schutzbündler“ eröffnet und dabei den Kriegsinvaliden Matthias Csmarits aus Klingenbach und den erst sechsjährigen Schattendorfer Josef Grössing (der spätere Kulturminister Josef Ostermayer ist sein Großneffe) erschossen. Die drei Schützen plädierten auf Notwehr und wurden von den Geschworenen ganz knapp freigesprochen.
Wien explodierte.
Föttinger: „Schattendorf ist nur ein Auslöser für den Justizpalast-Brand. Fanni ist dabei und kommt für die Tatsache, dass sie einen Polizisten anschießt, ins Gefängnis. Wichtig ist: Es ist kein Stück über die Schattendorfer Prozesse. Es geht um eine Zeit, die wir verdrängt haben.“
Thomas Arzt hat viel Zeit in der Nationalbibliothek verbracht, Zeitungen von damals gelesen, Dokumente. „Ich wollte den Ton der Zeit fassen. Ich habe die Kampfpublikationen der Linken, der Rechten und Protokolle der Parlamentsdebatten gelesen, und irgendwann hörst du plötzlich die Straße. Da ist ein großer Unterschied zu heute, aber dann triffst du auf Versatzstücke, die auch im Jetzt auftauchen, und da wird es gruselig.“
Herausgekommen ist ein Stück, das Horváth nie geschrieben hat – getragen von einer unglaublichen textlichen Musikalität.
Das Leben und die Sorge
Johanna Mahaffy und Katharina Klar spielen die beiden Hauptrollen, Ulli Maier eine verarmte Gräfin, die im Gemeindebau gelandet ist, ein großes Herz hat und sich mit den Jungen solidarisiert.
„Ich bin tatsächlich ein Gemeindebaukind. Mein Vater kommt vom Land, aus dem tiefsten Proletariat. Wir waren fünf Leute und haben in unserer ersten Wohnung auf 40 Quadratmetern ohne Warmwasser und Dusche gewohnt. Aber es gab keine Angst vor Verlust, so wie heute. Es herrschte Aufbruch, es ging vorwärts“, erzählt Ulli Maier. „Die Menschen haben jetzt wieder Angst, zu verlieren, und diese Angst ist eine Triebfeder für Radikales.“
Und Herbert Föttinger setzt fort: „Es wird auch die Polarisierung zwischen den Parteien immer größer. Die Sozialdemokraten zerfleischen sich, wie immer, selbst, und die ÖVP entwickelt wieder so eine seltsame Art von Führeranspruch.“
Das Fehlen von Solidarität
Ulli Maier nickt. „Wir haben jetzt sehr lange in Zeiten von großem Individualismus gelebt, und seit Corona glauben viele, dass ihnen der genommen wird. Frei nach dem Motto: ‚Ich kann doch selber entscheiden, ob ich krank werde.‘ Das führt wieder zu einem Mangel an Solidarität. Ein Beispiel: In meiner Jugend wussten alle, dass Steuern etwas sind, was in die Gemeinschaft und deren Fortbestand einzahlt. Heute gibt es immer mehr Anspruchsdenken. Ich finde diese ‚Es steht mir zu‘-Mentalität beängstigend.“
Zur Person: Ulli Maier
ist im zweiten Bezirk in einem Gemeindebau aufgewachsen. „Wir waren zu fünft auf 40 Quadratmetern ohne Warmwasser und Dusche.“ Nach dem Reinhardt Seminar erobert sie die deutschen Bühnen: Köln, Bonn, Berlin, Hamburg, Frankfurt, Zürich ... Derzeit spielt Ulli Maier in vier Produktionen. 2002 bekam Ulli Maier den NESTROY für die Rolle der Agathe im „Mann ohne Eigenschaften“.
Das Stück hat eine wahnsinnig schöne literarische Sprache.
Herbert Föttinger, Regisseur
Die Schönheit des Textes
Ulli Maier hat viel und an vielen Orten gespielt. Zuerst Reinhardt Seminar, dann Volkstheater, Schauspiel Bonn, Frankfurt, Residenztheater in München,Thalia Theater, Berliner Ensemble, Zürich und, und, und. Sie ist auch als Lehrende tätig. Wie geht es ihr mit der Sprache des Stücks? „Sie steht in der Tradition Horváths, eine Kunstsprache, klar, kraftvoll, durchkomponiert, eine Sprache, die man nicht verwienerischen darf. Sie macht das Spielen damit einfach.“
Diesmal nickt Herbert Föttinger: „Es ist eine wahnsinnig schöne literarische Sprache.“
Thomas Arzt freut dieses Lob, als wir ihm am nächsten Tag davon erzählen. „Schreiben ist für mich ein Versuch, die Welt zu befragen. Ich denke in Kontrasten. Dort, wo ein Satz gemütlich in den nächsten überführt, da breche ich oft ab. Ich weiß oft, wo A ist und C, aber nicht B. Das ist aber nicht formal geplant, es ist intuitiv. Ich scheue das zu Formale und auch das zu Bekömmliche – mein Schreiben ist da irgendwo dazwischen.“