Wenn der Burgtheaterorganismus Luft holt, dann tut er das über einen unterirdischen Gang, der den Wiener Volksgarten mit dem Theater am Ring verbindet. Über ebendiese Luftröhre gelangt die zuvor angesogene Frischluft dorthin, wo Spieler*innen und Publikum im Idealfall gemeinsam atmen und gemeinsam die Luft anhalten – auf die Bühne und in den Zuschauerraum. Ein Fakt, der aber auch im übertragenen Sinn spannend ist, denn der neue Intendant Stefan Bachmann hat große Lust darauf, das Burgtheater zu einem Ort zu machen, der Gegenwart atmet – der gierig aufsaugt, was gerade in der Stadt in der Luft liegt.

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Frischer Wind

Eröffnet wird die neue Intendanz mit Shakespeares „Hamlet“ im Burgtheater und mit einer Adaption des Romans „Orlando“ von Virginia Woolf im Akademietheater. Über „Hamlet“ erzählte uns Thomas Jonigk, der neue Chefdramaturg des Burgtheaters, vor einigen Wochen: „Es ist nicht nur eines der berühmtesten und emblematischsten Stücke der Theatergeschichte, sondern auch eines, das wie kaum ein anderes Stück auf das Wesen des Theaters referiert.“

Karin Henkel, die seit ihrer Assistenzzeit am Burgtheater unter Claus Peymann nicht mehr im Haus am Ring inszeniert hat, wird das sogenannte „Stück der Stücke“ auf die Bühne bringen. Die mehrfach zum Theatertreffen eingeladene Regisseurin hat dem Text – um wieder zur Einstiegsmetaphorik zurückzukehren – viel frischen Wind eingehaucht und die Hauptfigur auf fünf Spieler*innen aufgeteilt.

Mit drei der Hamlets – Alexander Angeletta, Benny Claessens und Marie-Luise Stockinger – begeben wir uns für das Covershooting in die zu Beginn beschriebene Luftröhre des Burgtheaters. Damit wir nicht weggepustet werden, hat der dafür zuständige Techniker die Lüftungsanlage zuvor ausgeschaltet. Irgendwo relativ am Anfang des unterirdischen Ganges hat jemand „Etwas ist faul im Staate Dänemark“ an die Wand gesprüht – wie wir etwas später erfahren, ein Relikt einer Videoproduktion für ein Stück im Kasino am Schwarzenbergplatz. Ein Zeichen? Vielleicht. Definitiv aber einer jener Sätze aus Shakespeares Stück, die Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden haben. „Sein oder Nichtsein?“ und „Der Rest ist Schweigen“ komplettieren den bunten Reigen an alltagstauglichen Redewendungen aus dem „Hamlet“-Kosmos.

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Nach dem Shooting sitzen wir in der Kantine des Burgtheaters. Die geisterhaften Gänge haben uns wieder ausgespuckt, und die Lüftungsanlage läuft wieder. Nach einer kurzen Atempause wird also wieder Frischluft in den Theaterorganismus gepumpt. In der Kantine atmet inzwischen Benny Claessens hörbar laut auf und sagt: „Ich habe schon ein paar ‚Hamlet‘-Inszenierungen gesehen und hatte lange eine Aversion gegen das Stück, weil ich mich immer gefragt habe, was ein depressiver dänischer Prinz, der um seinen Papi trauert und jammert, weil sein Penis zu klein ist, mit mir zu tun haben soll. Außerdem geht es in der Auseinandersetzung damit häufig nicht um den Stoff, sondern nur darum, wer Hamlet spielt und was mit den berühmten Sätzen gemacht wurde. Dann ist man plötzlich nicht mehr im Theater, sondern in einer Quizshow.“

Überzeugt hätte ihn letztlich unter anderem die Tatsache, dass Karin Henkel das Stück inszeniert, erzählt der gebürtige Belgier. „Ich habe mit ihr ‚Macbeth‘ in den Kammerspielen gemacht, und ich weiß, dass sie das kann und ich etwas von ihr lernen kann. Ihr Shakespeare-Enthusiasmus ist ansteckend.“

Hamlet
„Ich brauche niemanden, der mir sagt, dass ich auf der Bühne von links kommen soll. Das weiß ich selbst.“ Benny Claessens ist als Gast in der „Hamlet“- Produktion des Burgtheaters zu sehen.

Foto: Marcel Urlaub

Zur Person: Benny Claessens

wurde 1981 in Antwerpen geboren und ist Schauspieler, Performer und Regisseur. Von 2010 bis 2015 war Claessens Ensemblemitglied der Münch- ner Kammerspiele. Er gehört zum Ensemble der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz – mit René Pollesch verband ihn eine intensive Arbeitsbeziehung.

Gemeinsam denken

Mit ihrer Entscheidung, die Rolle auf insgesamt fünf Spieler*innen aufzuteilen, habe Karin Henkel aus einem Stück, in dem der Fokus normalerweise stark auf der titelgebenden Hauptfigur liegt, ein richtiges Ensemblestück gemacht, wirft der von Köln nach Wien übersiedelte Alexander Angeletta ein.

„Ich dachte lange, dass das ein Stück ist, das eitle Schauspieler brauchen“, sagt Benny Claessens und setzt nach: „Als ich mich mit Elfriede Jelinek, mit der ich ein bisschen befreundet bin, über die Arbeit ausgetauscht habe, meinte sie, dass es schon Sinn ergibt, den Text auf mehrere Leute aufzuteilen, weil es ein viel zu großer Auftrag für eine Person ist. Ich empfinde Karins Entscheidung als Entlastung.“

Hamlet ist ja nicht feige, kraftlos oder schwach – er weiß einfach, dass ein Königsmord die Welt als solche nicht verändert.

Marie-Luise Stockinger, Schauspielerin

Das Wort „Entlastung“ wird in unserem Gespräch mit den drei Schauspieler*innen noch öfter fallen. Marie-Luise Stockinger fügt hinzu: „Als ich für Hamlet angefragt wurde, war mein erster, etwas lustloser Gedanke: Es wird wohl auf Ophelia hinauslaufen. Karin Henkel hat mir dann ihr Konzept präsentiert – alle Figuren entspringen aus Hamlet, das Ensemble würde also Anteile, Denkrichtungen, Vorstellung von Hamlet entwickeln. Da war ich schon überzeugt. Ich finde diese Ausgangslage gewagt, aufregend – das hat mein Denken über das Stück total befeuert. Eine Ophelia gibt es bei uns also nur, weil Hamlet sie sich vorstellt. Was ist echt? Was ist nicht echt? Wie unterscheidet man das überhaupt?“

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Sie höre Gedanken und Themen besser, wenn sie die Figuren spalte und verdopple, hat die Regisseurin einmal über ihre Theaterarbeit gesagt. In den „Hamlet“-Proben kristallisierte sich rasch heraus, dass sie sich vor allem für das Denken der Hauptfigur interessiert. Sowohl Benny Claessens als auch Marie-Luise Stockinger verweisen in diesem Zusammenhang auf einen Ausspruch von René Pollesch: „Alleine kann man gar nicht denken, man kann nur fühlen.“

Claessens, der Pollesch gut kannte, schlägt eine Brücke zum Stück: „Denken ist das Einzige, was Hamlet in diesem Stück tut. Deshalb handelt er auch nicht. Er behauptet zwar, er könne alleine denken, schafft es aber nicht, weil es alleine einfach nicht geht.“

Sie staune immer wieder darüber, wie nihilistisch und groß Shakespeare vor rund 600 Jahren gedacht hat, merkt Marie-Luise Stockinger an. „Ich glaube, dass viele Menschen dieses zermürbende Gefühl kennen, nicht so wirklich auf die Welt einwirken zu können. Hamlet ist ja nicht feige, kraftlos oder schwach, er weiß einfach, dass ein Königsmord die Welt als solche nicht verändert.“ Parallelen zu aktuellen Machthabern liegen nahe.

Marie-Luise Stockinger
„Hamlet ist ja nicht feige, kraftlos oder schwach – er weiß einfach, dass ein Königsmord die Welt als solche nicht verändert.“ Marie-Luise Stockinger, Schauspielerin

Foto: Marcel Urlaub

Zur Person: Marie-Luise Stockinger

1992 in Oberösterreich geboren, absolvierte sie ihre Schauspielausbildung am Max Reinhardt Seminar in Wien. Seit 2015 gehört sie dem Ensemble des Wiener Burgtheaters an. Neben ihrem Engagement am Burgtheater ist sie in diversen Spielfilmen und Serien zu sehen.

Begeistert statt entgeistert

Von den dreien ist Benny Claessens der Einzige, der schon einmal mit Karin Henkel gearbeitet hat. Alexander Angeletta, für den es ein Debüt im doppelten Sinne ist, hält fest: „Ich hatte schon lange keine Begegnung mehr, bei der so genau mit dem Text umgegangen wurde. In dieser Arbeit ist wirklich jeder Satz wichtig – an jedem Wort wird geschraubt. Das kann auch sehr fordernd sein, aber wenn ich die Kolleg*innen in den Proben von der Seite beobachtet habe, ist mir der Unterschied immer aufgefallen. Ich finde es schön, dass es eine gemeinsame Suche nach etwas sehr Direktem und Heutigem ist.“

Marie-Luise Stockinger, die am Burgtheater zuletzt „Heldenplatz“ mit Frank Castorf erarbeitet hat, sieht die Sache ähnlich: „Zuhören können spielt eine große Rolle in ihrer Arbeit. Sie möchte die Dinge, die wir sagen, wirklich verstehen. Und sie will auch, dass jeder Gedanke klar, direkt und heutig gedacht ist. Außerdem schreibt sie wahnsinnig viel an der Fassung, denkt Dinge immer wieder neu und baut auch überraschende Szenen entlang des Stücks. Ich liebe das ja – und will nur so arbeiten: Alle müssen sich investieren.“

Und dabei den Humor nicht verliert, sind sich die drei Spieler*innen einig. Da ist viel Platz für Spielerei und Spaß“, so Angeletta. Dieser drückt sich unter anderem darin aus, dass in Karin Henkels Inszenierung der Geist des Vaters mit einem Leintuch über dem Kopf auftritt. Passend dazu hat Benny Claessens kleine Geister auf seine Textfassung gemalt – so, wie sie Kinder zeichnen würden. „Es ist nicht klar, ob Hamlet diese Geister erfindet oder sie real sind. Menschen zu erfinden oder die Toten wiederauferstehen zu lassen ist für mich eine Form von Überlebensstrategie, die dann zum Tragen kommt, wenn man weiß, dass man selbst auch bald stirbt“, sagt Claessens, der sich, wie er lachend hinzufügt, gerne mit Sekundärliteratur bewaffnet. „Ich gehe auf sehr persönliche Weise in den Stoff hinein, um für mich beurteilen zu können, ob ich eine Idee gut finde oder nicht. Ich brauche niemanden, der oder die mir sagt, dass ich von links kommen soll, das weiß ich selbst. Das bedeutet nicht, dass ich alles bestimmen will, aber sobald es in die Endproben geht, möchte ich das Gefühl haben, dass ich meine Aktionen auf der Bühne besser kenne als irgendjemand anderer. Sonst ist es kein autonomer Job mehr.“

Und wer Benny Claessens – der am Tag des Shootings Sisi-Socken trägt – kennenlernt, merkt schnell, dass er sich nicht in eine Form und schon gar nicht in eine Art von Formel pressen lassen möchte.

Hamlet
„Ich hatte direkt Lust darauf, aber auch Respekt davor, weil ich wusste, dass Wien eine richtige Theaterstadt ist.“ Alexander Angeletta über seinen Wechsel ans Burgtheater

Foto: Marcel Urlaub

Zur Person: Alexander Angeletta

Der gebürtige Münchner sammelte seine ersten Spielerfahrungen im Jugendclub der Münchner Kammer- spiele. Nach dem Schauspielstudium spielte er in Dresden und Bremen, zuletzt gehörte er zum Ensemble des Schauspiel Köln. Ab 2024/25 ist er Teil des Burgtheaters.

Wien oder nicht Wien?

Als bei Alexander Angeletta, der mit Stefan Bachmann vom Schauspiel Köln ans Burgtheater gewechselt ist, die Frage aufkam, ob Wien oder nicht Wien, drehten sich seine Gedanken um folgende Themen: „Ich hatte direkt Lust darauf, aber auch Respekt davor, weil ich wusste, dass Wien eine richtige Theaterstadt ist. Den Leuten ist nicht egal, was hier auf den Bühnen passiert, sie haben eine Meinung dazu. Das muss man erst einmal aushalten, aber dadurch entsteht auch eine große Energie, die man nutzen kann.“

Auch Marie-Luise Stockinger war rasch klar, dass sie am Burgtheater bleiben möchte. Mit der für sie typischen Klarheit sagt sie: „Ich merke, dass ich Sicherheit um mich herum brauche, damit ich mich auf der Bühne ganzheitlich zur Verfügung stellen kann. Es kann aber auch sein, dass es in zwei Jahren anders ist. Ich möchte auch in dieser Hinsicht offen bleiben: Pragmatismus und Routine im Alltag – gut; auf der Bühne sind sie der Tod. Da kann ich dann gleich was Vernünftigeres machen.“

Wir verabschieden uns und verlassen die Kantine, draußen raucht der warme, aber schneidende Wiener Wind Benny Claessens Zigarette. Eine Frage ist natürlich unbeantwortet geblieben: Sein oder Nichtsein? Geht es um die Präsenz jener drei Schauspieler*innen, mit denen wir gerade in der Luftröhre des Burgtheaters unterwegs waren, lautet die Antwort in jedem Fall: Sein. Der Rest ist Schweigen.

Hier geht es zu den Spielterminen von Hamlet!