Es ist 9 Uhr, und Nils Strunk ist bereits auf Betriebstemperatur. Fröhlich feuert er eine mit Fakten gespickte Liebeserklärung an das städtische Freibad Gänsehäufel ab, das wir als Fotolocation auserkoren und gerade betreten haben. Dieser Umstand könnte natürlich den für September ungewöhnlich heißen Temperaturen geschuldet sein; wer den Schauspieler, Musiker und Regisseur kennt, wird jedoch bestätigen können, dass sein Motor stets auf Hochtouren und so gut wie stotterfrei läuft, sobald es um seine Arbeit geht. Strunks Freude daran, Fakten, Anekdoten und besondere Gegenstände zu sammeln, wird im Übrigen etwas später noch eine wichtige Rolle spielen.

Anzeige
Anzeige

Nun soll die Konzentration erst einmal auf Stefan Zweigs „Schachnovelle“ liegen, die Nils Strunk gemeinsam mit Lukas Schrenk – „Kollege, Kompagnon und zweites Ich“ – und drei Live-Musikern auf die Bühne des Burgtheaters bringt. Seit 2016 begleitet ihn der 1881 in Wien geborene Autor bereits. „Seitdem komme ich – im allerbesten Sinne – nicht mehr von ihm los“, so Strunk.

Nach der „Zauberflöte“ ist es seine zweite Regiearbeit am Burgtheater. „Uns war von Anfang an klar, dass es ein Stück mit viel Musik wird, alles andere hat sich erst nach und nach ergeben“, erzählt Nils Strunk und nimmt einen Schluck von seinem Soda Zitron. Dazu gehörte unter anderem die Eingebung, dass er das Stück gerne als Monolog inszenieren würde. „Es ist ein sehr plastischer Erzähler, der in dieser Novelle zu den Leser*innen spricht und in dessen Erzählung weitere Geschichten verpackt sind. Daraus entstand der Wunsch, die Sprache und die Merkmale dieser Textgattung zu erhalten und sie nicht zu zerhacken, um daraus Dialoge zu machen.“

Gefangen im Nichts

Doch hüpfen wir kurz drei Felder zurück, um den Inhalt zu beleuchten: An Deck eines Schiffes, das von New York nach Buenos Aires fährt, trifft der bereits erwähnte Erzähler auf den Schachweltmeister Mirko Czentovic und den früheren Isolationsinhaftierten Dr. B., der die Gefangenschaft durch die Nationalsozialisten nur mithilfe einer gedruckten Sammlung von Schachpartien überlebte. Es kommt zu einem Schachduell zwischen den beiden, das düstere Erinnerungen in Dr. B. weckt.

„Ich wollte ein Stück inszenieren, das ein Stück österreichische Geschichte abbildet. Und ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die gar nicht wissen, dass das Hotel Metropol, in dem Dr. B. gefangen gehalten und psychisch gefoltert wird, die größte Gestapo-Leitstelle im gesamten NS-Staat war. Heute steht dort der Leopold-Figl-Hof“, so der Schauspieler, der in der Isolation des Dr. B. Parallelen zur damaligen Situation des Autors erkennt. „Im brasilianischen Exil war auch Stefan Zweig mit dem Nichts, wenn auch in einer anderen Form, konfrontiert. Er hat sein Publikum, seine Art von Gegenspieler, verloren. Wie bei dem Schachspiel, das der inhaftierte Dr. B. Tag für Tag gegen sich selbst spielt.“

Anzeige
Anzeige

Tatsächlich ist es das erste Mal, dass die „Schachnovelle“ auf der Burgtheaterbühne gespielt wird. „Das ist natürlich eine große Ehre und gleichzeitig auch viel Druck“, hält Strunk fest. Schon bei der „Zauberflöte“ hatte er Sorge, dass ihn die Wiener*innen „an der Pestsäule aufhängen“. Das Gegenteil ist passiert.

Nils Strunk
Schachmatt? Ganz und gar nicht. Nils Strunk findet in der Überforderung zur Ruhe. „Der Beruf lässt meinen Klassenclown leben“, sagt er im Interview.

Foto: Marcel Urlaub

Zur Person: Nils Strunk

hatte Angst, dass ihm die Wiener*innen seine Interpretation der Oper übelnehmen. Doch das ist nicht passiert – im Gegenteil: In ­Scharen strömen sie in die Inszenierung. Seit der Spielzeit 2021/22 gehört
der Schauspieler, ­Musiker und Regisseur zum Burgtheater-Ensemble, zuvor war er am Münchner Residenztheater ­engagiert. 

Eine musikalische Reise

Musikalisch folgt die Inszenierung jener Reise, die Stefan Zweig, als er vor den Nazis floh, auf sich nehmen musste und die teilweise jener Route gleicht, die das Schiff in der „Schachnovelle“ zurücklegt. Er hätte sofort an Tango gedacht, weil er etwas finden wollte, das die geometri­schen Bahnen des Schachspiels nachempfindet, erzählt Nils Strunk. Außerdem wird Balkanmusik, Swing, Jazz und Wiener Walzer erklingen. „Wir erzählen die ‚Schachnovelle‘ richtig als Band. Außerdem ist es unser großer Wunsch, dass dieser Abend ein Fest der Künste wird, bei dem sich Literatur, Schauspiel, Musik und Malerei miteinander verbinden“, bringt er es auf den Punkt. Die bildenden Künste werden vor allem im Bühnenbild eine wichtige Rolle spielen.

Die düsteren Episoden, die im Text vorkommen, stünden in keinerlei Widerspruch zum Unterhaltungsanspruch des Abends – in seiner tiefgründigsten und ernsthaftesten Form. „Ich finde es erstaunlich, dass Zweigs Sprache keinesfalls kälter, sondern beinahe noch malerischer, fast märchenhaft wird, wenn er die Geschichte von Dr. B. aufrollt. Außerdem sind seine Texte für mich auch Einfallstore zu einer anderen Zeit. Natürlich steckt viel Aktuelles darin, aber ich finde, dass man nicht immer zwanghaft danach suchen muss. Man kann auch einfach in die Vergangenheit reisen und schauen, ob sie zu einem spricht – und in welcher Form sie das tut. Das hat meiner Meinung nach nichts mit Flucht vor der Realität zu tun“, findet Nils Strunk klare Worte.

Mir wurde schon oft gesagt, dass ich mich ­endlich entscheiden soll, was ich machen ­möchte. Ich habe mich immer dagegen gewehrt.

Nils Strunk, Schauspieler, Musiker, Regisseur

Plötzlich schießt ihm ein Satz in den Kopf, den sein Kollege und Freund Lukas Schrenk vor kurzem zu ihm gesagt hat: „Ich glaube, dass man, wenn man sich dem Geist der Autor*innen und Komponist*innen verpflichtet und sie ernst nimmt, indem man ihre Werke neu belebt, gute Begleiter hat.“

Für die beiden gebe es keinerlei Paradoxie zwischen dem Anspruch, einem Text neues Leben einzuhauchen und ihn ernst zu nehmen. Ganz im Gegenteil.

Wenn sich Nils Strunk in seine Stücke hineinwirft, dann tut er das nicht nur mit Haut und Haar, sondern taucht dabei auch bis auf den Grund hinunter, um bislang Vergrabenes an die Oberfläche zu tauchen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Ergebnisse dieser tiefgehenden Beschäftigung mit den Stücken und ihren Autor*innen in den Inszenierungen Platz finden – „manchmal befreien wir uns wieder davon“.

Schachnovelle
Es ist das erste Mal, dass die Schachnovelle am Burgtheater inszeniert wird. „Das ist natürlich eine große Ehre und gleichzeitig auch viel Druck“, hält Strunk fest.

Foto: Marcel Urlaub

Wenn auch nur im übertragenen Sinne, denn seine große Sammelleidenschaft eint den Schauspieler und Regisseur mit Stefan Zweig. „Für viel zu viel Geld habe ich eine Postkarte von Stefan Zweig gekauft. Außerdem habe ich in Salzburg diesen Stein mitgehen lassen, der aus einer Wand seines ehemaligen Hauses gefallen ist“, erzählt Nils Strunk mit beinahe schelmischem Gesichtsausdruck.

Alles geben

Nils Strunk führt bei der „Schachnovelle“ jedoch nicht nur Regie, komponiert und schreibt (gemeinsam mit Lukas Schrenk), sondern spielt den Monolog auch selbst. Ein auf den ersten Blick schizophrener Zustand, dem eine gewisse Ähnlichkeit zur Situation des fiktiven Dr. B. innewohnt. „Dass Dr. B. versucht, gegen sich selbst zu spielen, hat für mich auch mit der scheinbaren Unmöglichkeit zu tun, gleichzeitig Regisseur, Schauspieler und Musiker zu sein“, merkt er an und fügt hinzu: „Mir wurde in meinem Leben schon so oft gesagt, dass ich mich endlich entscheiden soll, was ich machen will. Dagegen habe ich mich immer gewehrt.“

Obwohl er auf der Bühne keinen Mitspieler hat, entsteht die Arbeit dennoch im Miteinander. Lukas Schrenk, den Strunk bereits als sein „zweites Ich“ bezeichnet hat – wobei das nun wieder irgendwie schizophren klingt –, ist seit mehreren Jahren sein kongenialer Partner. „Und das absolute Gegenteil von mir – nämlich ruhig und besonnen.“ Nils Strunk lacht.

Nils Strunk
Eingesammelt. Der Stein, den Nils Strunk zum Shooting mitbrachte, stammt aus der Mauer des Hauses, in dem Stefan Zweig vor der Emigration lebte.

Foto: Marcel Urlaub

Die Anmerkung, dass er sich über diese Arbeit freue wie ein kleines Kind, kauft man ihm sofort ab.

In der Mehrfachverantwortung findet Strunk Kontrolle, Ruhe und Glück. „Wie bei einem Schiff, das ruhig auf dem Wasser liegt, wenn es schnell fährt. Sobald es langsamer wird, gerät es ins Schaukeln. Ich habe Glück, dass ich mit dem Theater und der Musik etwas gefunden habe, mit dem ich meine Energie bündeln kann. Als Kind hörte ich immer nur: ‚Halt dich zurück!‘ In der Schauspielschule sagte man mir dann zum ersten Mal, dass ich mehr machen soll, sonst sei es langweilig. Das war toll. Dank Theater und Musik ist mein ADHS für mich ein Segen, kein Syndrom.“

Fix ist: Auch in unser Gespräch hat sich Nils Strunk kopfüber hineingeworfen und ist dabei bis zum Grund getaucht. Langweilig wurde es dabei nie.

Hier zu den Spielterminen von Die Schachnovelle!