Im Leben von Jesus sehr präsent. Aus der Bibel aber weitgehend verdrängt oder zu Nebenfiguren degradiert: Frauen. Wenn man so will, geben ihnen Komponist John Adams und Librettist Peter Sellars im 2012 uraufgeführten „The Gospel According to the Other Mary“ also einen Teil ihrer Geschichte zurück und rücken das Bild zurecht, das Christen weltweit von ihnen haben. In diesem Fall von Mary und Martha – stellvertretend für alle Frauen, die anwesend waren, die Geschichte mitprägten und eine Vielzahl von Identitäten und Stimmen repräsentieren.

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Der Einstieg in das musikalisch fordernde wie fesselnde Stück erfolgt mit der Entlassung Marys aus dem Gefängnis und ihrer Rückkehr in das Haus Marthas, die ein Heim für arbeits- und obdachlose Frauen leitet, das auch eine Gruppe von Aktivisten beherbergt. Ebenfalls anwesend: Lazarus, Bruder von Mary und Martha, in der Bibel bekanntlich früh verstorben und von Jesus erneut zum Leben erweckt. Um die Leiden des Letztgenannten geht es zwar auch in diesem Oratorium, jedoch kommt Jesus in dieser Passionsgeschichte persönlich gar nicht vor. Denn die Perspektive liegt eben bei den Frauen.

„Peter Sellars selbst hat es so formu­liert: Die Frauen waren vor Ort, sie kommen nur in der Bibel nicht zu Wort. Warum also erschaffen wir nicht einen Zeugenbericht aus erster Hand?“, erklärt Regisseurin Lisenka Heijboer Castañón im Interview. „Und das haben er und John Adams getan. Zuerst fand ich es ein wenig furchteinflößend und herausfordernd, Jesus nicht präsent zu haben; aber ich habe rasch verstanden, dass genau das viel Raum für Reflexionen lässt. Denn es geht eben nicht um diese eine Person, sondern es geht um Menschlichkeit, um eine Gruppe von Personen, die um ihre Daseinsberechtigung kämpft und Verantwortung füreinander übernimmt. Jesu Gegenwart ist nicht wörtlich zu verstehen, sondern sie ist spiritueller Natur. Das macht dieses Oratorium auch so außergewöhnlich, weil es auf verschiedenen Ebenen agiert.“

Jasmin White
Aktuell in "Die lustigen Weiber von Windsor" zu sehen: Jasmin White.

Foto: Stefan Fürtbauer

Zur Person: Jasmin White

diplomierte an der Juilliard School in New York City und errang bei mehreren Wettbewerben Spitzenplätze – so den ersten Platz beim Queen Sonja-Wettbewerb 2023 in Norwegen. Jasmin White – Stimmlage Kontra-Alt – ist ­Mitglied des Opernstudios der Volksoper und wird ab der nächsten Saison im Ensemble singen. Aktuell zu sehen als Frau Reich in „Die lustigen Weiber von Windsor“. 

Das Wort Konzept findet sie im Zusammenhang mit ihrer Arbeit generell befremdlich. „In erster Linie geht es darum, ein Stück authentisch auf die Bühne zu bringen. Bei ‚The Gospel According to the Other Mary‘ ist besonders angenehm, dass es bisher selten gezeigt wurde und man deshalb kaum Referenzen hat. Niemand hat also spezielle Erwartungen daran. Ich sehe es auch nicht als religiöses Stück, für das man biblisches Vorwissen benötigt, es ist vielmehr im besten Sinn spirituell und energetisch.“

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Laufend passieren kleine und große Wunder, zugleich erscheint die Handlung – allein schon durch den Ort des Geschehens – in einem zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Licht.

Universelle Energie 

Es soll Sänger geben, die ihr Können höheren Mächten zuschreiben. Und so manches Publikum wähnte sich bei besonders gelungenen Aufführungen bereits im siebenten Himmel. Hat Singen also auch für Wallis Giunta (Mary) und Jasmin White (Martha) einen sakralen Aspekt?

„Ich bin nicht im herkömmlichen Sinn religiös, aber ich bin sehr spirituell“, antwortet Wallis Giunta, „wenn ich singe, fühle ich eine energetische Verbindung zwischen mir, meinen Kollegen und den Zuschauern im Saal. Das spürt man manchmal stärker, manchmal schwächer, je nachdem, was auf der Bühne gerade passiert, aber ich kann diese Energie, wenn ich während einer Aufführung Kraft brauche, tatsächlich anzapfen. Dann empfinde ich große Freude und tiefe emotionale Erfüllung.“

Jasmin White geht es ähnlich. „Auch ich bin nicht religiös. Spiritualität bedeutet für mich persönlich in erster Linie Energie. Ich habe viele kreative Betätigungsfelder, die mir dabei helfen, diese Energie aufzuladen, aber auch darauf zu reagieren, wenn man von außen mit ihr konfrontiert wird. Singen ist eindeutig die Nummer eins, wenn es darum geht, Energien aufzunehmen und Energien abzugeben. Oft hört man nach einer Vorstellung von Zuschauern, dass man sie zum Weinen gebracht habe oder dass sie emotional auf andere Weise sehr berührt gewesen seien. Das sind gemeinsam gemachte menschliche Erfahrungen. Und auch, wenn ich mich mit extrem religiösen Charakteren, wie Mary, nicht direkt zu identifizieren vermag, kann ich mich auf dieser Energieebene mit ihnen verbinden.“

Nicht zuletzt sei Singen, so meinen beide amüsiert, vor allem harte Arbeit und weniger schicksalhaftes Geschenk höherer Mächte. Man könne die Stimme auch als vielseitiges Werkzeug begreifen

Wozu ich bei Rossini eine Woche brauche, dafür benötige ich hier einen Monat.

Jasmin White, Sänger*in (they/them)

Künstlerisches Workout 

Eine vokale Herausforderung ist nach Auskunft der darin hauptsächlich Involvierten auch die Arbeit an „The Gospel According to the Other Mary“ – und zwar alles daran.

„Es ist rhythmisch und tonal wirklich schwierig. Wir haben beide schon Musik von John Adams gesungen, aber dieses Stück hat noch einmal ein anderes Level. Die Dissonanz zwischen dem Orchester und den Sängern, die Rhythmuswechsel in der Partitur, die beinahe unvereinbar sind, drücken das Leid der Personen im Stück aus. Man kann eine solche Geschichte nicht mit einer netten, schönen Klangfolge erzählen“, so Wallis Giunta. Für sie sei es zudem schwierig, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die man üblicherweise lieber in den hintersten Gedächtniswinkeln vergraben würde.

„Diese Musik befindet sich in einem ständigen Aufruhr, es ist ein permanentes Auf und Ab, zu dem man mitunter einfach erscheinende Melodien singen soll, die sich einem im Zusammenspiel aber kaum noch erschließen“, erläutert Jasmin White. „Das macht es beim Lernen so schwierig, manchmal denke ich mir, es wäre leichter, das Ganze a cappella zu studieren. Sobald das Orchester in einer anderen tonalen Welt agiert als man selbst, kann man sich einer Rolle nicht so annähern wie zum Beispiel bei Mozart. Da weiß ich, wie es geht. Aber wozu ich bei Rossini eine Woche brauche, dafür benötige ich hier einen Monat.“

Das soll allerdings nicht als Jammern auf hohem Niveau missverstanden werden, sondern als Einblick in das Musik­verständnis des Komponisten. Denn zugleich betont Jasmin White, dass John Adams der einzige Grund sei, warum sie sich überhaupt für moderne Musik interessiere.

„Die Art und Weise, wie er für die menschliche Stimme komponiert, ist außergewöhnlich. Viele zeitgenössische Komponisten verstehen nicht, was eine Stimme braucht. Er schon.“ Habe man sich die Partitur erst einmal erarbeitet, verspüre man tiefe Befriedigung, ergänzt Wallis Giunta. „Wenn man sie beherrscht, fühlt man sich befreit.“

Lisenka Heijboer Castañón
„Ich brauche Musik“, begründet Lisenka Heijboer Castañón, warum sie sich in ihren Regiearbeiten auf Musiktheater spezialisiert hat.

Foto: Milagro Elstak

Zur Person: Lisenka Heijboer Castañón

probierte sich in unterschiedlichen Theater-Departments aus, ehe sie als Assistentin von Lotte de Beer ins Regiefach wechselte. Die gebürtige Niederländerin mit peruanischen Wurzeln inszenierte u. a. 2020 „Faust“ an der Dutch National Opera, 2022 „Tristan und Isolde“ in Santa Fe und im selben Jahr die Neuproduktion „I have missed you forever“ beim Opera Forward Festival in Amsterdam.

Metaphysische Nahrungsquelle

„Ich brauche Musik“, begründet Lisenka Heijboer Castañón, warum sie sich in ihren Regiearbeiten auf Musiktheater spezialisiert hat. „In meiner ­Familie beherrscht jeder ein Instrument, ich selbst habe von Kindesbeinen an ­Violine gespielt, aber auch getanzt und mich auf anderen Gebieten kreativ betätigt. Eigentlich war ich nie gut darin, mich auf eine Sache zu fokussieren, was mir jetzt sehr zugute kommt, denn ich habe von allem ein bisschen Ahnung (lacht). Nach der Uni habe ich in unterschiedlichen Departments gearbeitet, nur damit ich im Theater sein konnte. Einige Zeit dachte ich, dass ich Kostümbildnerin werden könnte, aber dann habe ich zufällig Lotte de Beer kennengelernt und erfahren, was Regie bedeutet. Wir sind enge Freunde geworden, und ich habe sechs Jahre lang für sie als Assistentin gearbeitet, ehe ich begonnen habe, meine eigenen Sachen zu machen.“

Jasmin White wiederum entstammt einer Familie von Bassisten. Vater, Großvater, Onkel – alle Jazz- und Funkmusiker am Bass. Und auch Jasmin beherrscht das Instrument virtuos. „Aber ich habe überdies immer gesungen. Mit 12, 13 Jahren hat sich mein gesamtes Leben im Kunstgebäude meiner Schule abgespielt, wo ich im Chor gesungen, in der Band gespielt und viel gemalt habe. Meine erste Gesangslehrerin hat mich dann mit klassischer Musik vertraut gemacht. Sie meinte: ‚Ich kann dir nicht beibringen, wie Beyoncé zu singen, aber ich kann dir zeigen, wie Schubert klingt.‘ So hat alles begonnen und sich schrittweise weiterentwickelt. Singen hat mir in jeder Hinsicht gutgetan, und als ich ans College kam, was klar, dass meine Zukunft in der Oper liegen würde.“

Zur Person: Wallis Giunta

diplomierte an der Juilliard School in New York City und gewann 2018 in der Kategorie „Young Singer“ bei den ­International Opera Awards. Zu ihrem Repertoire zählen u. a. die Titelrollen in „Carmen“, „María de Buenos Aires“ und „La Cenerentola“, ­Octavian in „Der Rosenkavalier“, Dorabella in „Così fan tutte“ und Sesto in „La ­clemenza di Tito“. Seit 2022/23 ist die Mezzosopranistin Ensemblemitglied der Volksoper. 

In Wallis Giuntas Familie ist sie zwar die Erste und Einzige, die klassische Musik zum Beruf gemacht hat, der Nährboden dafür dürfte allerdings vorhanden gewesen sein. „Einer meiner Großväter war Sänger, der andere hat Dudelsack gespielt, mein Onkel ist in diversen Bands aktiv, auch mein Bruder und meine Schwester sind Musiker. Seit ich ungefähr acht Jahre alt war, wollte ich auf der Bühne stehen, habe mich aber mehr für Musical interessiert. Das war mein großes Ding, bis ich 14 war. Dann hat sich mir die Oper eröffnet, und es war schnell klar, dass meine Stimme dafür sehr gut geeignet ist, also habe ich das Fach gewechselt. Ich singe aber nach wie vor auch viel Musical, weshalb die Volksoper, an der man sich nicht entscheiden muss, sondern beides machen kann, für mich auch das ideale Haus ist.“

Ich bin nicht im herkömmlichen Sinn religiös, aber ich bin sehr spirituell.

Wallis Giunta, Sängerin

Tierische Liebe

Jasmin White hat einen nicht mehr ganz jungen, dafür sehr großen Hund und verzichtet für ihn auf lange Reisen. „Ich lebe auch deshalb so gerne in Wien, weil ich hier nicht nur Rad fahren kann, was ich leidenschaftlich gern tue, sondern mein Mann und ich auch viele Möglichkeiten haben, mit unserem Hund Aktivitäten zu planen, die ihn nicht überfordern.“

Wallis Giunta hat keinen eigenen Hund. „Leider geht das beruflich nicht!“ Aber sie hat ein enormes Herz. „Ich kümmere mich seit vielen Jahren um meist ältere Tiere, die besonderer Pflege bedürfen und die ich aus Tierheimen für eine bestimmte Zeit zu mir nach Hause hole. Manchmal für einen Monat, dann wieder für ein halbes Jahr. Es ist wie eine Pflegeelternschaft. Mir gibt das viel, denn so kann ich zumindest zeitweise ein Tier um mich haben. It’s a win-win.“

Hier geht es zu den Spielterminen von The Gospel According to the Other Mary!