Natural.Born.Medea: Grillparzer trifft Bonnie trifft Clyde
„Die Angst vor der starken Frau ist nicht nur historisch, sondern allgegenwärtig", sagt Ernst Kurt Weigel, der in seinem neuesten Mash-up Grillparzers „Medea“ mit Oliver Stones „Natural Born Killers“ verschränkt. Wir haben mit ihm und Schauspielerin Rina Juniku gesprochen.
BÜHNE: Seid ihr ausgehend von Medea auf Natural Born Killers gekommen oder andersherum?
Ernst Kurt Weigel: Die Idee zu Mash-ups, beziehungsweise die konkrete „Paarung“, geschieht oft lange Jahre vor deren Realisierung. In diesem Fall war für mich klar, dass ich gerne ein Grillparzer-Drama mit einem Film kombinieren möchte. Bei der Beschäftigung mit dem Medea-Stoff hatte ich sofort diese Roadmovie-Assoziation des mordenden Liebespaares. „Bonnie und Clyde“, „Wild at Heart“, „True Romance“ waren sofort präsent und natürlich auch NBK, das in seiner Erzählung auch und ganz früh die unheimlich starke Wirkung der Medien – noch gar nicht der Social-Media – thematisiert und damit auch das manipulierte Narrativ, das eine einfache Liebesgeschichte zwischen zwei brutalen Menschen zu einem unsterblichen Mythos macht. Das hat mich interessiert. Wie ein Mythos entsteht. Und das Reizvolle daran: Anders als beim Film geht es für die Liebe bei Medea nicht gut aus.
Das Interesse am Medea-Mythos ist ungebrochen, es vergeht kaum eine Spielzeit ohne Medea. Woran könnte das liegen?
Ernst Kurt Weigel: Es gibt einerseits neben der antiken Vorlage des Euripides unzählige mehr oder minder glückliche Bearbeitungen des Stoffes in allen nur denkbaren Kunstgattungen. Deshalb ist der Stoff allgegenwärtig. Ich selbst hab, glaube ich, acht Varianten gelesen.
Andererseits berührt uns eine gute Geschichte immer unmittelbar und auf vielen Ebenen gleichzeitig. Ich kenne kaum Dramen oder Stories, die das so stark und in einem solchen Umfang tun, wie jene über Medea. Es werden hier nicht nur alle Beziehungen, die ein Mensch zu Lebzeiten eingeht, untersucht, sei es zu Vater, Mutter, Geschwistern, Partnern, Kindern, Freunden, Fremden, Feinden, Lügnern und Schmeichlern, sondern es finden auch fast alle Aspekte des Daseins wie Liebe, Abhängigkeit, Feindschaft, Freiheit, Gefangenschaft, Xenophobie, Loyalität, Flucht, Hass, Wut, Lüge, Mord, Tod, Betrug, Glaube, Magie, göttliche Interventionen, Kindsmord etc. Eingang in das Drama. Alle menschlichen Konflikte scheinen in einem einzigen Drama vereinigt!
Das bietet natürlich eine enorm breite Palette an Möglichkeiten, das Drama nach der einen oder anderen Seite zu interpretieren. Und selbst dann hat man als Regisseur niemals das Gefühl, alles ausreichend erzählt zu haben, permanent den einen oder anderen Aspekt vergessen oder vernachlässigt zu haben. Es ist einfach so übervoll, genauso wie das überfordernde Bildfeuerwerk von Oliver Stone. Das Thema hat daher zu allen Zeiten unter allen Menschen immer Brisantes zu erzählen!
Die Angst vor der starken Frau ist nicht nur historisch, sondern allgegenwärtig.
Ernst Kurt Weigel
Welche Seiten der Figur haben euch besonders interessiert?
Ernst Kurt Weigel: Vor allem sprach uns natürlich der feministische Aspekt der Geschichte dieser mehr als ungewöhnlichen Frau sehr stark an. Allerdings zeigt uns hier der Mythos eine emanzipierte Frau, weit jenseits einer bourgeoisen Vorstellung einer starken und ein bissl politisch unkorrekten Frau, die ein wenig Krallen zeigt. Im Gegenteil lässt er uns in die unheimlichen Abgründe einer Frau blicken und macht ihre dunkelsten Seiten sichtbar, stilisiert sie nicht zum wehrlosen Opferlamm, aber auch nicht zur kopflosen Furie. Sie ist sich all ihrer Handlungen, die sie gegen eine ungerechte Welt setzt, bewusst und steht zu ihren scheußlichen Taten, die ihr eine Unabhängigkeit als Frau gegen alle Widerstände garantieren. Das ist das besondere, das macht vielen Angst und verbindet gleichzeitig die – eigentlich vom Patriarchat beherrschte – Antike mit unserer „modernen“ Gegenwart. Die Angst vor der starken Frau ist nicht nur historisch, sondern allgegenwärtig.
Rina, was macht es für dich besonders reizvoll diese Figur zu spielen?
Rina Juniku: Medea ist eine leidenschaftliche und unfassbar starke Frau. Sie ist eine äußerst kontroverse Gestalt. Einerseits ist sie eine heilkundige Zauberin, andererseits todbringende Giftmischerin. Sie wird von ihrer großen Liebe verraten und tötet, letzten Endes, ihre eigenen Kinder um den Verräter höchstmöglich zu strafen. Eine Art radikalfeministische Ermächtigungsphantasie. Wie kann es soweit kommen? Und inwiefern ist diese Destruktion ein Akt der eigenen Befreiung. Diese Reise nachzuempfinden, das macht diese Figur besonders faszinierend für mich. Sie erinnert mich ein bisschen an Beatrix Kiddo aus „Kill Bill“.
Was hat ihre Popularität mit jener zu tun, die Mickey und Mallory in „Natural Born Killers“ umgibt? Gibt es in dieser Hinsicht Parallelen?
Ernst Kurt Weigel: Oliver Stone greift vor fast 30 Jahren das Thema der manipulativen Kraft von Medien auf, um ein Killerpärchen zum Mythos zu stilisieren. Mittlerweile leben wir in einer Welt, in der das Phänomen Social-Media die abstrusesten (Lügen-)Geschichten in kürzester Zeit in scheinbar gültige Wahrheiten verwandelt, indem sie ihren content so emotional wie nur möglich aufbereitet. Einmal erfolgreich in die Welt gesetzt, lassen sie sich nie wieder zurücknehmen. Influencer*innen sind die Role Models unserer Kindergeneration und ihre Popularität ist oft wie eine geladene Waffe, die unmerklich abgefeuert ihr Ziel selten verfehlt. Die Sehnsucht nach Mythen, nach Geschichten, nach Charakteren, nach Vorbildern, die wir verstehen und von denen wir uns verstanden fühlen, ist dem Mensch seit seinem Bestehen immanent und macht Mythen unsterblich.
Wie geht ihr mit der Ästhetik von „Natural Born Killers“ um? Mit diesem Genre-Gemisch das ja sehr zur Popularität des Films beigetragen hat?
Ernst Kurt Weigel: Von Anfang an war klar, wir können mit der formalen Schnittästhetik des Films auf der Bühne niemals mithalten. Es ist ja auch ein komplett anders funktionierendes Medium. Deshalb wollten wir auf keinen Fall mit Projektionen arbeiten. Jedoch gibt es eine interessante Parallele zwischen der Überforderung durch die Bildschnitte und der Überforderung der Inhalte der Medea-Geschichte. Das ist das Schöne am Mash-up: wir kreieren unsere eigene Story aus den Inhalten zweier Vorlagen, ohne eine kopieren zu müssen.
Improvisation ist entscheidend für eure Arbeit. Kommt man in der Probenarbeit dadurch schneller auf eine persönliche Ebene? Wie war das bei „Natural.Born.Medea.“?
Ernst Kurt Weigel: Jede Arbeit als Künstler*in ist persönlich, wenn sie ehrlich und seriös gemeint ist, und das Ergebnis ist immer ein Abbild der eigenen Persönlichkeit. Die Improvisation und Stückentwicklung beschleunigt es aber -ganz richtig-, Situationen ganz nah an sich heranzuholen, Stückszenen mit unseren eigenen Lebenserfahrungen zu vergleichen und letztlich ein komplett authentisches Spiel herzustellen.
Was bei diesem Stoff besonders herausfordernd für mich war, war den Humor nicht zu verlieren.
Rina Juniku
Rina, wie hast du das bei dieser Arbeit empfunden?
Rina Juniku: Ich habe in den letzten Jahren fast ausschließlich an Stückentwicklungen gearbeitet. Zuerst saugst du dich mit Input voll und dann überraschst du dich selbst und deine Kolleg*innen mit dem, was aus dir heraussprudelt. Es ist spannend. Ein Zustand der ständigen Alarmbereitschaft und Transparenz. Was bei diesem Stoff besonders herausfordernd für mich war, war den Humor nicht zu verlieren.
Was ist für dich als Spielerin das Schöne an dieser Arbeitsweise?
Rina Juniku: Abgesehen von der Storyline gibt es keine Richtlinien. Bestimmte Punkte müssen vorkommen, der Rest ist dir überlassen. Das bedeutet eine große Bewegungsfreiheit, die zwar ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt, weil es so viele Gestaltungsmöglichkeiten gibt, aber es wird nie fad. Ich lerne sehr viel über mich selbst und ich habe dabei immer das Gefühl zu wachsen. Das macht diese Arbeitsweise besonders wertvoll.
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Welche Themen haben euch am Beginn der Probenarbeit umgetrieben? In welche Richtung hat sich das dann entwickelt?
Ernst Kurt Weigel: Wir haben uns von Anfang an auf den feministischen Aspekt der beiden Vorlagen konzentriert, der beim Film ein bisschen ins Hintertreffen geraten ist, bzw. sehr nineties ist, und diesbezüglich Mallory mit Medea ausgetauscht. Anfangs sind wir, zum Leidwesen unserer Ausstattung, von einem Setting „Auf der Flucht“ ausgegangen. Es wurde dann ein Gefängnis, in dem wir alle äußerlich und innerlich sitzen und der Freiheitsbegriff zusammen mit dem Humanismusideal sind plötzlich große Themen geworden, die ja ganz stark mit Grillparzer zu tun haben!
Oliver Stone wurde nach Erscheinen des Films u.a. Gewaltverherrlichung vorgeworfen. Gibt es vor eurem Stück eine Triggerwarnung?
Ernst Kurt Weigel: Das mit den Triggerwarnungen im Theater finde ich mittlerweile sehr lächerlich, obgleich ich verstehe, dass manche Menschen heutzutage sehr empfindlich sind! Aber was soll ich da auf unsere Türen schreiben: „Vorsicht: Hier könnten sie angenehm oder unangenehm berührt werden!“ „Das Leben ist lebensgefährlich?“ Spaß beiseite: Der augenscheinliche Abstand, den man im Theater oft zu den Darsteller:innen hat, scheint ja ein größerer als beim Film, Spezialeffekte viel schwieriger, oft wird mit Zeichen gearbeitet, die unser Publikum lesen kann, wie sie gemeint sind und dadurch oft stärker wirken als in Echt. Die Realität im Theater entsteht im Betrachter/der Betrachter*in selbst. Das Leben ist brutal, das verstecke ich nicht, aber ich verherrliche dabei auch nix, denn man erlebt auch die Konsequenzen mit. Eintritt ab 16, damit ist dem Genüge getan.
Rina Juniku: Es ist natürlich eine ambivalente Sache, aber Rape- und Revenge-Filme sind immer auch Teil eines zeitaktuellen, geschlechterpolitischen Diskurses.
Ganz an den Anfang zurückgespult: Wie ist die Idee der Mash-ups eigentlich entstanden?
Ernst Kurt Weigel: Ich dachte mir seit meiner Ausbildung, dass Arthur Schnitzler inhaltlich alles aber formal gar nichts mit David Lynch gemein hat. Bei Schnitzler liegt die gesamte Psychologie der Figuren zwischen den Worten, wo nichts gesprochen wird. Drum offenbaren sich seine großartigen Stücke niemals beim Lesen, sondern ausschließlich auf der Bühne. Das interessiert Lynch so überhaupt nicht und zeigt filmisch ausschließlich die absurden innerlichen psychischen Zustände der Menschen. Da gibt es kein Geplänkel. Eine perfekte Ergänzung dachte ich mir. 2011 ist „Weit.Way.Land“ entstanden. Ein riesiger Erfolg!
Ernst, in einem Interview meintest du einmal, dass dich deine Anfangszeit beim Serapionstheater sehr geprägt hat. Inwiefern prägt sie auch heute noch dein Theaterverständnis?
Ernst Kurt Weigel: Noch immer ungebrochen! Was ich mitnahm: Dass Kunst für alle Sinne statt nur für den Kopf geschaffen wurde, der Körper mehr als viele Worte auszudrücken vermag, die magische Kraft, die eine poetische Situation hervorrufen kann, stets in großen Zusammenhängen denken, anstatt sich in kleinmütigen Dingen oder Modeerscheinungen zu verlieren, die großen Mythen in einem selbst erkennen, das suchen was keiner niemals finden wird, sich aufmachen zu einem Ziel, mit der Gewissheit, dass man es nie erreichen wird … Ich könnte das schier endlos fortsetzen! Bis heute zehre ich von der Begegnung mit den großartigen Theatermenschen Ulrike Kaufmann und Erwin Piplits.
Wenn ihr euch entscheiden müsstet: Oliver Stone oder Quentin Tarantino?
Ernst Kurt Weigel: Ich würde keinen dem anderen vorziehen, beide sind großartige Filmemacher, die das Kino nachhaltig beeinflusst und verändert haben.
Rina Juniku: Ich kenne von Oliver Stone gar nicht so viel, von Tarantino alles. Seine Filme haben mich stark geprägt. „Death Proof“ ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Also für mich: Tarantino.