Mein Freund Harvey: Ich sehe was, was du nicht siehst
Und das ist: ein fast zwei Meter großer Hase. Ein Puka, um genau zu sein. Um einen solchen geht es in der Komödie „Mein Freund Harvey", die Mira Stadler im Stadttheater Klagenfurt inszeniert. Marcel Heuperman spielt Elwood, der Harvey als Einziger sehen kann. Die Unruhe, die er damit auslöst, verrät viel über unsere Zeit, sind sich die beiden einig.
Eines vorweg: Harvey ist ein Hase, kein Häschen. Genau genommen ist er ein Puka, ein mit der Gabe der Transformation ausgestattetes Fabelwesen, das der keltischen Mythologie entstammt. Weil der stattliche Hase Harvey fast zwei Meter misst, muss selbst der großgewachsene Schauspieler Marcel Heuperman zu ihm aufschauen. Was ihm nicht allzu oft passiert, wie er im Interview lachend anmerkt.
Noch nie zu einem solchen Hasen aufgeschaut bzw. einen solchen überhaupt je gesehen zu haben, ist keine Schande. Schließlich handelt es sich dabei ja um ein mythologisches Geschöpf, was wiederum zur Folge haben muss, dass es diese Art von Wesen ja gar nicht geben kann. Oder etwa doch? Im Stück „Mein Freund Harvey“ ist man sich diesbezüglich alles andere als einig. Wichtig ist: Elwood, neben Harvey die zentrale Figur des Stücks, kann den überdimensionalen weißen Hasen sehen. Und vielleicht noch viel wichtiger: Er fühlt sich von ihm gesehen.
Viel Liebe für die Irritation
In Mira Stadlers Inszenierung der 1944 uraufgeführten Komödie von Mary Chase spielt der Schauspieler Marcel Heuperman Elwood. Zu dritt sitzen wir in einer Weinbar am Rande des siebten Bezirks, die Proben am Stadttheater Klagenfurt haben gerade begonnen. Draußen präsentiert sich der bitterkalte Wiener Wind in seiner ganzen Unbarmherzigkeit. Die Idee, dieses Stück auf die Bühne zu bringen, sei im Dialog mit dem Theater entstanden, erzählt die Regisseurin. „Wenn man den Text ein wenig entstaubt, verbirgt sich darunter ein wirklicher Diamant“, hält sie fest und setzt nach: „Vor allem versteckt sich hinter all den lustigen Situationen, die unter anderem dadurch entstehen, dass die Figuren in dem Stück unterschiedliche Dinge sehen oder eben nicht sehen, eine Ebene, die sehr viel damit zu tun hat, wie wir heute mit Menschen umgehen, die unserer Ansicht nach aus der Norm fallen.“
In dieser Hinsicht sei es ein wahninnig modernes und hochaktuelles Stück, fügt Marcel Heuperman hinzu, der den Text als „großes Plädoyer für das Anderssein“ empfindet. „Ich glaube auch, dass es in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen eher ländlich geprägten Strukturen und dem anonymen Großstadtleben gibt“, fügt er hinzu. „Wenn jeder jeden kennt, hat man viel eher das Gefühl abhängig davon zu sein, was andere von einen denken – ob sie einen als ‚normal‘ empfinden, was auch immer das heißen soll.“
Dabei gehe es auch um den Umgang mit Leerstellen bzw. die Angst vor dem Unerklärbaren, wirft Mira Stadler ein. „Es gibt dieses menschliche Bedürfnis, alles zu Ende erklären zu wollen. Gleichzeitig gibt es aber Dinge, die sich nicht zu Ende erklären lassen. Darum, diese Leerstelle oder Irritation auszuhalten, kreist auch dieses Stück. Und das finde ich total spannend.“
„Mein Freund Harvey“ bricht gleichzeitig auch mit dem höchst fragwürdigen Kindergartennarrativ des einsamen Kindes, das keine Freunde hat und deshalb welche erfinden muss. Denn Elwood ist alles andere als einsam und tieftraurig, wie Marcel Heuperman erklärt. „Er ist ein zufriedener, großzügiger und charmanter Mann, der nichts Böses an sich hat, und es als großes Glück empfindet, dass Harvey eines Tages in sein Leben gekommen ist. Und genau diese Liebenswürdigkeit irritiert sein Umfeld, was wiederum auch ein interessanter Punkt in Hinblick auf unsere Gesellschaft ist.“
Die Verausgabung liegt in der Reduktion
Wie es anfühlt, wenn der wichtigste Spielpartner gar nicht da ist, wollen wir noch von Marcel Heuperman wissen. „Das ist natürlich eine riesengroße Herausforderung“, antwortet er und setzt lachend nach: „Deshalb haben wir schon sehr früh im Probenprozess – beim Lesen am Tisch – damit begonnen, immer einen Stuhl neben meinen zu stellen – auf dem Harvey sitzt. Damit die Zuschauer*innen ihn am Ende auch sehen können, brauche ich immer ein ganz klares Bild davon, was er gerade tut und wo er sich gerade genau befindet. Denn: Wenn ich ihn nicht sehen kann, sieht ihn niemand.“
Wer an den Spieler Marcel Heuperman denkt, hat vermutlich gleich Begriffe wie Verausgabung, Unberechenbarkeit, Provokation und Intuition im Kopf. Ein Begriffsbündel, das der Schauspieler bei Regisseuren wie Frank Castorf oder Daniel Kramer stets gut einsetzen konnte. Bei Elwood läge die Verausgabung vor allem in der Reduktion, nimmt er unsere Frage, ob das diesmal auch so sei, vorweg. „Während um ihn herum alle komplett durchdrehen, weil sie mit dieser Leerstelle nicht zurechtkommen, bleibt er ganz ruhig und besonnen.“
Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Im Grunde plädiert dieses Stück lautstark dafür, genauer hinzuschauen und wirklich auf die Menschen um einen herum zu achten. Sie nicht sofort in bestimmte Kategorien zu stecken und sich Zeit dafür zu nehmen, ihnen zuzuhören.“
Für Mira Stadler ergibt sich daraus auch ein interessanter Punkt in Verbindung mit dem Thema Mental Health Awareness: „Glücklicherweise kommen wir als Gesellschaft immer mehr weg davon, zu sagen, dass jemand eine Depression hat oder die Depression ist, sondern fangen an, eher davon sprechen, dass jemand mit einer Depression lebt. Ein bisschen ist es auch bei Harvey und Elwood so: Elwood lebt mit Harvey, er ist nicht das Problembild Harvey.“
Theater als emotionale Reise
Mira Stadler, selbst gebürtige Kärntnerin, arbeitet zum zweiten Mal am Stadttheater Klagenfurt, der größten Kulturinstitution des südlichsten österreichischen Bundeslandes. In Kärnten hat sie bereits mehrmals inszeniert und das Publikum, immer als eines erlebt, das sich gerne auf Theatermagie einlässt. Für Marcel Heuperman, der mit Ende der Intendanz von Martin Kušej das Burgtheater verließ, ist es die erste Arbeit als freier Schauspieler.
Die beiden sind sich einig, dass es für die Inszenierung wichtig sein wird, das Publikum über die Komödie abzuholen und nach und nach die darunterliegenden Ebenen freizuschaufeln. „Alle schreien momentan nach Komödie“, hält Mira Stadler fest. Den Wunsch nach kluger Unterhaltung könne sie gut nachvollziehen.
Marcel Heuperman erzählt, dass er sich in der letzten Zeit immer wieder die Relevanzfrage in Zusammenhang mit seinem Arbeitsplatz – der Theaterbühne – gestellt hätte. Dabei ist er unter anderem zu folgendem Schluss gekommen: „Mich macht es fertig, dass so oft das Verständnis im Vordergrund steht, wo es doch eigentlich darum geht, sich auf eine emotionale Reise zu begeben. Die Menschen davon wegzubringen, immer alles logisch durchdringen zu wollen, ist mir als Spieler ein großes Anliegen.“
„Mein Freund Harvey“ sei das perfekte Stück dafür, fügt er fröhlich hinzu. „Weil man bei diesem Abend gar nicht zu einem logischen Schluss kommen kann.“ Sein freudig-funkelnder Blick lässt keinerlei Zweifel daran, dass er sich mit großer Hingabe auf diese Mission begeben wird.
Wir bezahlen, stehen auf und verlassen die Bar. Und Harvey? Der ist womöglich in Klagenfurt geblieben – bei all den anderen Ikonen des Andersseins, die es in der Kärtner Hauptstadt so gibt. Den „Uni-Jesus“ zum Beispiel. Oder die „Ein-Euro-Frau“. Doch das sind wieder ganz andere Geschichten.