Auf der Suche nach den verlorenen Stimmen
Was ist zu tun, wenn der Bruder seine Stimme verliert? Wie kann er trotzdem mitreden und mitbestimmen? In „Die vielen Stimmen meines Bruders" begibt sich ein Geschwisterpaar auf die Suche nach Stimmen für alle Gelegenheiten.
Eine Stimme in einer Sache (oder auch mehreren) zu haben, mitbestimmen und mitreden zu können, bedeutet nicht, dass man sich dabei auf eine Stimme beschränken muss. Das legt zumindest das Stück „Die vielen Stimmen meines Bruders“ nahe, in dem ein Bruder und eine Schwester, die Autorin ist, vor einer großen, im Grunde alles bestimmenden Aufgabe stehen: Der Bruder wird aufgrund einer seltenen Krankheit seine Stimme verlieren und in absehbarer Zeit deshalb auf eine künstliche Stimme angewiesen sein. Die Suche nach mehreren Stimmen – der Bruder hätte nämlich unter anderem gerne eine für Montage, eine verführerische und eine, die so klingt, als würde er sich mit allem auskennen – ist das inhaltliche Kernelement des Stücks. Gleichzeitig wird jedoch auch der Vorgang des Erzählens – bzw. die Frage danach, mit welcher Stimme man diese Geschichte erzählen kann und sollte – miterzählt.
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Wessen Geschichte?
Es ist ihre eigene Familienkonstellation, von der Magdalena Schrefel, deren Debüt „Sprengkörperballade“ in Köln und Wien für Furore sorgte, bei ihrem jüngsten Stück ausgeht. Ob es eine Form von Initialzündung gab, wollen wir von der Autorin, die wir gemeinsam mit ihrem Bruder Valentin Schuster vor der Wien-Premiere des Stücks im Kosmos Theater treffen, wissen. Sie antwortet: „Im Sommer 2021 war Valentin bei mir in Berlin zu Besuch und wir haben Dinge gemacht, die man als Geschwister so macht – Kaffee getrunken, Sehenswürdigkeiten angesehen und viel geredet. Bei einem der Gespräche hat Valentin erzählt, dass er aufgrund von zunehmenden Verkrampfungen seiner Kehle eines Tages Sprachassistenz brauchen würde. Weil ich es nicht wusste, habe ich ihn damals gefragt, was das genau bedeutet.“
Mit seiner Erklärung hätte er ihr als Autorin ein großes Geschenk gemacht, fügt Magdalena Schrefel lachend hinzu. „Bei mir blieb vor allem der Satz hängen, dass er sich nun eine Stimme aussuchen könne. Da sprang sofort der Imaginationsapparat an.“ Der Schreibprozess sah dann so aus, dass Schrefel, die vor etwas mehr als zehn Jahren aus Österreich wegzog, mit ihrer Imagination vorpreschte und ihr Bruder sich als erster Leser stets mit Feedback bei ihr meldete.
Die Ebene des Erzählens sichtbar zu machen sei etwas, das sie bei all ihren Texten umtreibt, merkt die Autorin an. „In diesen Stoff ist es eingeschrieben, weil unweigerlich die Frage auftaucht, was es bedeutet, wenn von zwei Geschwistern eine öffentlich über den anderen spricht. Das Stück ist auch ein Ringen darum, wessen Geschichte es nun ist. Ist es die Geschichte meiner Suche nach Stimmen, ist es seine Geschichte oder die von uns beiden? Diese Fragen waren von Anfang an miteingeschrieben.“
Zudem seien das alles Fragestellungen, die auch dem Theater selbst immanent seien, hält Magdalena Schrefel daran anknüpfend fest und verweist auf den Untertitel ihres Theatertextes: „ein Stück für an- und abwesende Körper (und Stimmen).“ „Es hat mich interessiert, mit der Deckungsgleichheit von Körper und Stimme, wie man sie im Regelfall auf einer Theaterbühne vorfindet, zu brechen und mir anzusehen, was passiert, wenn Körper anwesend sind, die keine Stimme haben oder Stimmen da sind, die keinen Körper haben.“
Gleichermaßen repräsentiert
Dass Valentin Schuster, der selbst Schauspieler ist und unter anderem im vergangenen Sommer mit der Produktion „Eine Nacht mit Lady Macbeth“ beim Hin & Weg Festival in Litschau zu Gast war, die Rolle des Bruders selbst spielt, stand nie zur Debatte. „Wir haben es am Anfang schon thematisiert, aber für mich war eigentlich gleich klar, dass jemand anderer die Rolle des Bruders übernimmt – auch damit ich mehr Abstand dazu habe“, sagt Schuster. Seine Schwester stimmt ihm zu. „Mir war es wichtig, dass wir beide gleichermaßen repräsentiert sind.“
Ob sie – als Geschwister – während des Schreibprozesses auch einmal aneinandergeraten wären? Beide lachen. „Eigentlich nicht“, hält Valentin Schuster fest. Nach einer kurzen Pause ergänzt Magdalena Schrefel: „Ich habe aber beobachtet, dass es uns die Fiktion ermöglicht hat, über bestimmte Dinge zu sprechen, die wir sonst vielleicht nicht thematisiert hätten. So gibt es im Text eine Stelle, in der die ältere Schwester den Gedanken hat, dass ihr Bruder vielleicht vor ihr sterben könnte. Das wollte ich nicht einfach in den Text reinschreiben, sondern vorher ansprechen, also haben wir einen Zoom-Call gemacht, in dem es genau darum ging.“ Valentin Schuster fügt hinzu: „Das ist auch die Stelle, die mich immer am meisten berührt, weil ich das Gespräch auf eine komische Art sehr schön fand.“
Eindeutig war auch sehr schnell, dass am Ende ein mit viel Humor ausgestattetes Stück dabei herauskommen sollte – eines, in dem die beiden Hauptfiguren mit- und übereinander lachen können. Oder um es mit Valentin Schusters Worten zu sagen: „Es ist ein liebevolles Necken, das alles auflockert.“ Außerdem sei Lachen oft der beste Weg, um in die Herzen zu kommen, fügt Magdalena Schrefel hinzu.
Habt ihr mich verstanden?
Valentin Schusters Interesse für das Theater sei schon sehr früh geweckt worden, erzählt er. „Mit zehn ungefähr.“ Seit sich seine Stimme im Sommer 2017 merklich veränderte, spiele er aber nur noch mit bestimmten Kolleg*innen. Unter anderem mit Andrea Nitsche, mit der er in Magdalena Marszałkowskas Stück „Eine Nacht mit Lady Macbeth“ zu sehen ist.
Vor einigen Jahren schrieb er den Monolog „Habt ihr mich verstanden?“, den er auch spielte und in dem er von seinen Erfahrungen mit Menschen erzählt, die lieber höflich nicken als zuzugeben, ihn nicht verstanden zu haben. „Ich selbst arbeite beinahe jeden Tag an meiner Stimme, um als gesellschaftlich vollwertiges Individuum toleriert beziehungsweise akzeptiert zu werden. Doch immer mehr stelle ich mir die Frage, ist das meine Aufgabe? Sollte sich mein Umfeld nicht einfach die Zeit nehmen und mir richtig zuhören?“ heißt es unter anderem in seinem Monolog.
Ein paar Jahre später, bei unserem Interview kurz vor der Wien-Premiere jenes Stücks, in dem es unter anderem darum geht, wessen Stimmen gehört werden und welche nicht, sagt er dazu: „Die Menschen müssen sich schon Mühe geben, mich zu verstehen, aber ich meine, dass es möglich ist. Und wenn es nicht geht, gibt es Wege das möglich zu machen, wie zum Beispiel Assistenz.“ Oder um es mit einer weiteren Zeile aus seinem Monologtext zu sagen: „Man findet immer eine Möglichkeit zu kommunizieren.“
„Die vielen Stimmen meines Bruders“ inszeniert von Marie Bues und Anouschka Trocker ist eine Koproduktion von Schauspielhaus Wien, Kosmos Theater Wien und Kunstfest Weimar.