„Wir wollen ein offenes Haus sein“, sagt Volkstheater-Direktor Kay Voges und legt eines der Spielzeitbücher zur Saison 2023/24 vor sich auf den Tisch. Passend zum eben Gesagten stehen die Fenster seines lichtdurchfluteten Büros weit offen. Für unser Gespräch bedeutet das, dass es vom typischen Großstadtsoundtrack begleitet ist – allerdings von der mittäglichen Akustikversion. Wien unplugged, wenn man so will. Anstatt es als störend zu empfinden, dass sich die Stadt hin und wieder in unser Gespräch einmischt, fühlt es sich stimmig an, denn auch im Programm, das sich der Intendant gemeinsam mit seinem Team für die kommende Spielzeit überlegt hat, hört man – brummend, quietschend, bellend und surrend – an vielen Stellen die Hauptstadt durch.

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So wird die kommende Saison mit Ingeborg Bachmanns in der Wiener Ungargasse angesiedeltem Roman „Malina“ eröffnet, im Dezember Raphaela Edelbauers Wien-Roman „Die Inkommensurablen“ zur Uraufführung gebracht und zwei Monate darauf der Monologabend „Heit bin e ned munta wuan“ präsentiert – eine „Todescollage auf Wienerisch“, die sich an dem berühmten Qualtinger-Zitat „In Wien musst erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst lang“ abarbeitet. Der unverkennbare Wien-Schwerpunkt sei auch ein Versuch, gesellschaftliche Transformationsprozesse in den Blick zu nehmen, wie Kay Voges mit ruhiger Stimme erläutert. „Wir stellen fest, dass unser urbanes Zusammenleben wie lange nicht mehr Veränderungen unterworfen ist. Keiner weiß, wie es ausgehen wird. Moral, Politik, Technologie – und in den Ballungsräumen spitzen sich die Krisen immer besonders schnell zu.“

Polarisierendes Wien

So viel Wahres auch in dem bereits erwähnten Zitat von Helmut Qualtinger stecken mag – auf das Theater, die vielleicht lebendigste und gegenwärtigste aller Kunstformen, trifft es nur bedingt zu. Und auf das Wiener Volkstheater noch viel weniger. „Was mich umtreibt, ist nicht ein rückwärtsgewandtes Bestätigen des Immergleichen, sondern die Überzeugung, dass die Gesellschaft wie auch die Kunst permanente Transformation benötigen“, findet Voges klare Worte. Das bedeutet auch, sich immer wieder selbst infrage zu stellen. „Ich glaube, dass wir den Herausforderungen der Zukunft mit Veränderung und Wandel begegnen sollten. Aussagen wie ‚Es soll alles so bleiben, wie es ist‘ lassen uns früher oder später gegen die Wand fahren.“

Ob ihm dieser Satz und die damit verbundene Einstellung zum Leben seit seinem Umzug nach Wien schon öfter begegnet sei? Er nehme die Stadt in dieser Hinsicht als zweigeteilt wahr, antwortet er nach einer kurzen Pause. „Es gibt eine große Geschichte, auf die man stolz ist, und dadurch auch einen großen Wertekonservativismus. Auf der anderen Seite findet sich in dieser Stadt aber auch eine beachtliche Menge an Menschen, die Wien als eine Weltstadt begreifen – die neugierig sind und aktiv Zukunft gestalten möchten. Wer suchend ist und von sich meint, noch nicht alles gesehen und erfahren zu haben, ist am Volkstheater perfekt aufgehoben.“

Auch wer daran interessiert ist, zu erfahren, was Theater alles sein kann, wird am Volkstheater schnell fündig. Kay Voges, für sein genreübergreifendes Theaterverständnis bekannt, hat ein Visual Poem, eine Gameshow und Live Animation Cinema auf den Spielplan gesetzt. Wird er gefragt, wo denn das wahre, klassische Theater hingekommen sei, antwortet er: „Der Mensch, der zu wissen glaubt, was das wahre Theater ist, der hat das wahre Theater nicht verstanden, weil es kein festgeschriebener Begriff, sondern lebendig ist – und sich in einem permanenten Transformationsprozess befindet.“ Daran anknüpfend zitiert er einen Satz, der dem Komponisten Gustav Mahler zugeschrieben wird: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ Das passt auch insofern gut, als an diesem Haus wirklich alle für ihr Theater brennen.

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Kay Voges
Probeneinblick. Ein erster Eindruck von Kay Voges’ Gameshow-Satire „Du musst dich entscheiden!“. Die Premiere findet am 15. September statt. Das Bühnenbild stammt von Michael Sieberock-Serafimowitsch.

Foto: Marcel Urlaub

Kay Voges selbst bringt, als zweite Produktion im großen Haus, eine satirische Gameshow mit dem Titel „Du musst dich entscheiden!“ auf die Bühne. „Auch in diesem Stück geht es um gesellschaftliche Transformationsprozesse – um Fragen, die immer wieder neu verhandelt werden müssen. Darüber hinaus spielt auch der damit verbundene Meinungskampf eine wichtige Rolle. Wir bringen nicht nur die Debatten der Gegenwart spielerisch auf die Bühne, sondern laden auch das Publikum dazu ein, sich an diesen Debatten zu beteiligen. Die Zuschauer*innen dürfen mit abstimmen und damit den Fortlauf des Abends mitbestimmen“, fasst Kay Voges den mit viel Musik und Humor ausgestatteten Theaterabend zusammen. Nach einer kurzen Pause setzt er nach: „Vielleicht wird es auch ein Abend, der klar macht, warum wir das schöne Wort Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, so dringend brauchen.“

Die große Spielfreude

Welche Rolle für ihn die Positionierung des Volkstheaters in der Stadt spielt? „Ich habe das Gefühl, dass wir es in den letzten drei Jahren geschafft haben, eine gute Lesbarkeit zu entwickeln. Ich sehe das Programm des Volkstheaters als eine Menüerweiterung auf dem Speiseplan der Wiener Kulturlandschaft. Was es bei uns gibt, gibt es nur hier. Das bedeutet nicht, dass wir besser sind. Aber es ist uns gelungen, zu zeigen, dass das Haus lebendig und relevant ist – dass wir die Menschen, die zu uns kommen, wirklich meinen und dass hier leidenschaftliche Menschen lebendige Theaterkunst machen.“

Miteinander zu spielen, heißt auch, aufeinander achtzugeben

Dass diese Lebendigkeit durch das vermutlich spielfreudigste Ensemble der Stadt in besonderem Maße zum Ausdruck kommt, darüber waren sich die Feuilletons von Wien bis Berlin bislang ziemlich einig. Der Intendant leitet die vielgepriesene Spiellust seines Ensembles folgendermaßen her: „Als wir zu Beginn meiner Direktionszeit darüber gesprochen haben, wie wir erzählen könnten, dass wir ein Ensembletheater sein möchten, kamen wir zu der Einigung, dass wir nur Kollektivverbeugungen machen wollen. Weil wir nicht daran glauben, dass eine*r den Abend trägt und der Rest nur Staffage ist. Miteinander zu spielen heißt auch, aufeinander achtzugeben. Das ist der Geist, der in diesem Haus über allem schwebt. Die Lust, die über die Rampe schwappt, hat ihren Ursprung vielleicht in genau diesem Punkt. Hier scheitert niemand für sich alleine.“

Möglicherweise hat sie ihren Ursprung aber auch an dem großen Tisch im Büro des Intendanten, an dem wir während des Interviews sitzen. Kein kleiner Schreibtisch mit überproportional großem Lederstuhl, sondern einer, der dazu einlädt zusammenzusitzen, um dann noch enger zusammenzustehen. Auch – oder gerade dann – wenn politische Parteien das Volkstheater als „Skandaltheater“ zu denunzieren versuchen.

Kay Voges Weg nach oben

Kay Voges’ steiler Weg nach oben

Vor einem Jahr ist das Raumschiff Volkstheater in Wien gelandet. Obwohl es einen holprigen Start hingelegt hat, mauserte sich das von Kay Voges geführte Theater zur spannendsten Bühne der Stadt, schreibt Theaterkritikerin Karin Cerny. Weiterlesen...

„Politische Parteien, die unsere Arbeit als Gefährdung sehen, sind vielleicht sogar eine Bestätigung dafür, dass wir mit unseren Inhalten, die von Gleichheit und Vielfalt handeln, auf dem richtigen Weg sind. Ich glaube, dass wir als Theater eine Verantwortung haben, uns immer und immer wieder für eine vielfältige, offene Gesellschaft einzusetzen“, bringt es der Intendant auf den Punkt.

Auch wenn im Theater – wie im Fußball – stets der Satz „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ gilt, kommt irgendwann immer der Sommer. Und den verbrachte Kay Voges in diesem Jahr in Wien. Auch um jene Stadt noch besser kennenzulernen, die sich in den Volkstheater-Produktionen der kommenden Spielzeit immer wieder zu Wort melden wird.