„Bleib“ im Schauspielhaus Salzburg: Sein oder Schein?
Einen geliebten Menschen gehen zu lassen ist alles andere als einfach. Gibt man sich der eigenen Trauer hin oder errichtet man eine Mauer und macht so weiter wie bisher? Das Stück „Bleib“ findet darauf keine eindeutigen Antworten. Weil es auch keine gibt, ist Regisseurin Verena Holztrattner überzeugt. Sie inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung.
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Foto: Jan Friese
„Das Wertvolle an diesem Stück ist für mich unter anderem, dass der Trauer so viel Platz eingeräumt wird“, sagt Regisseurin Verena Holztrattner. Wir treffen einander in Wals, wo das Schauspielhaus Salzburg seine Probebühnen und Werkstätten beheimatet. Das Stück, das sie in Salzburg inszeniert, heißt „Bleib“, wurde von der französischen Dramatikerin Azilys Tanneau geschrieben und ist eine österreichische Erstaufführung.
Der Inhalt in aller Kürze: Nach dem Suizid ihrer Tochter wendet sich ihre Mutter an ein Unternehmen, das sich darauf spezialisiert hat, digitale Kopien von verstorbenen Menschen entstehen zu lassen. Daraufhin gerät sie in ein Abhängigkeitsverhältnis, das nicht nur ihre finanziellen Ressourcen sprengt, sondern sich auch als emotionale Zerreißprobe für die gesamte Familie herausstellt.
Trauer darf in unserer westlichen Kultur eigentlich nicht vorkommen. Es gibt kaum Räume und schon gar keine Zeit dafür.
Verena Holztrattner, Regisseurin
Trauer ohne Bewertung
Irgendwie passt es, dass sich unweit der Probebühne des Schauspielhauses die historische Hochburg des österreichischen Ringersports befindet. Denn auch die Figuren in „Bleib“ ringen mit sich und ihren Gefühlen, schlagen hin und wieder hart auf dem Boden auf und rappeln sich anschließend wieder auf. Die aushebelnde Wirkung, die Trauer entfachen kann, wird in Tanneaus Stück auf unterschiedliche Arten deutlich.
Wir gehen an der hauseigenen Tischlerei vorbei in Richtung Probebühne. Die Sonne, die sich nach (gefühlten) Wochen der Abwesenheit wieder einmal blicken lässt, scheint durch die großen Fenster und verstärkt den Geruch von frisch geschnittenem Holz. Bevor der Durchlauf losgeht, werden noch schnell Ideen ausgetauscht, Hosen zurechtgerückt und ein moosgrüner Hochflorteppich auf seine Rutschfestigkeit überprüft. Verena Holztrattner legt ein großes Notizbuch und einen sehr kleinen Bleistift vor sich auf den Tisch.
„Ich finde es schön und wichtig, dass dieser Text ganz unterschiedliche Arten zeigt, um mit Trauer umzugehen“, sagt die Regisseurin nach der Probe. „Es gibt den Vater, der eine Mauer aufzieht, alle Fotos abhängt und sich darauf verlässt, dass er nun die vom Arzt beschriebenen Trauerphasen durchlaufen wird. Die Mutter glaubt nicht an diese Phasen, wünscht sich einen sinnlicheren Umgang mit ihrer Trauer und wendet sich schließlich an das Tech-Unternehmen mit dem Namen ‚Osiris‘. Dann gibt es noch den Zwillingsbruder der Verstorbenen, der seine Trauer, aber auch seinen Zorn zulässt. Er ist wütend, dass er von seinen Eltern nicht gesehen wird, obwohl er sich gerade in einer Phase seines Lebens befindet, in der wichtige Entscheidungen zu treffen sind. Ich kann all diese Arten, mit der eigenen Trauer umzugehen, nachvollziehen. Daher würde ich mir niemals anmaßen, die Handlungsweisen der Figuren zu bewerten. Auch der Text tut das nicht, obwohl er das Gefahrenpotenzial, das die im Text beschriebene Technologie mit sich bringt, durchaus offenlegt.“
Wichtig sei ihr, dass jede Figur ausreichend Raum bekommt, um sich an diesem einschneidenden Erlebnis abzuarbeiten, fügt sie hinzu. „Auch deshalb, weil Trauer in unserer westlichen Kultur eigentlich nicht vorkommen darf – es gibt kaum Räume und schon gar keine Zeit dafür.“
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Foto: Jan Friese
Nie ohne Anliegen
Es gibt jedoch eine Sache, die Verena Holztrattner in diesem Zusammenhang überhaupt nicht interessiert: Stillstand. Oder anders formuliert: Figuren, die keinerlei Hebel mehr zur Verfügung haben, um gegen die aushebelnde Kraft von Trauer anzukämpfen. „Bei so einem hochemotionalen Thema liegt es im ersten Moment nahe, Figuren zu zeigen, die so niedergeschlagen sind, dass sie eigentlich keinerlei Handlungsspielraum mehr haben. Ich kann zwar auch das nachvollziehen, allerdings würde das bedeuten, dass der Abend bereits vor der ersten Szene wieder vorbei ist – weil die Figuren kein Anliegen mehr haben. Wobei Anliegen nicht bedeutet, dass sie wissen, wie es funktioniert. Vielmehr geht es für mich darum, Figuren auf die Bühne zu bringen, die zwar Rückschläge und auch Verzweiflung erleben, sich aber doch immer wieder aufraffen und versuchen, mit sich selbst und miteinander in Beziehung zu treten.“
In der Vorbereitung auf die Arbeit an „Bleib“ hätte sie zudem viel über die sogenannte „Digital Afterlife Industry“ gelesen, hält die Regisseurin fest. Also über Firmen, die ihr Geld damit verdienen, Chatbots oder Avatare zu entwickeln, die es scheinbar ermöglichen, mit Verstorbenen zu interagieren. Wie auch im Stück beschrieben, ist es dafür notwendig, die KI mit Informationen aus dem Leben des verstorbenen Menschen zu füttern. „Auch die Mutter tut das. Selbst die intimsten Aufzeichnungen ihrer Tochter überlässt sie dem Berater bei ‚Osiris‘, damit dieser eine möglichst lebensnahe virtuelle Rekonstruktion ihrer Tochter erstellen kann“, erklärt Holztrattner.
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Foto: Jan Friese
„Das gehört nicht zu meinem Leben, mein Tod“
Leonie Berner, fest am Schauspielhaus engagiert, spielt die rekonstruierte Tochter. Schon sehr früh ging es in den Proben darum, eine Entscheidung darüber zu treffen, wie sich diese Figur bewegen und wie sie sprechen soll, merkt die Regisseurin an. Auch hier hatte sie schnell eine klare Vorstellung: „Der große Reiz liegt für mich darin, sowohl die Mutter als auch die Zuschauer*innen dahingehend zu verführen, dass sie glauben, sie hätten es vielleicht doch mit einem echten Menschen zu tun. Um das dann auch immer wieder zu brechen – zum Beispiel mit Wiederholungen und Gesten, die nicht ganz stimmig sind.
Auf die naheliegende Frage „Warum dachtest du, der Tod sei besser, als bei uns zu bleiben?“ findet die KI im Übrigen nur eine – für die Mutter höchst unzufriedenstellende – Antwort: „Entschuldigung, ich kann diese Frage nicht beantworten. Das gehört nicht zu meinem Leben, mein Tod.“ Ein Gedanke, der möglicherweise dazu einlädt, intensiv damit zu ringen.