„Hier ist nichts zu tun.“ So lautet eine der Antworten von Joseph Lorenz, danach befragt, warum er gerne ins Kaffeehaus gehe. Und aufgrund fehlender Ablenkungsversuche, die es daheim zuhauf gebe, könne er hier arbeiten. Mit „hier“ ist das Café Bräunerhof gemeint, einst Audienzraum von Thomas Bernhard und, glaubt man den signierten Fotos an den Wänden, auch von zahlreichen anderen Künstler*innen hochgeschätzt. „Es spielt nicht auf Kaffeehaus, es ist eines“, erklärt der Schauspieler, warum er sich gerade den Bräunerhof als Treffpunkt ausgesucht hat.

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Sein „erweitertes Wohn- und Arbeitszimmer“ wird von ihm so oft wie möglich besucht, hier liest er die Zeitungen– „aber niemals Kritiken“ –, lernt Texte, schätzt das hohe Konzentrationsniveau. Charakterstudien, wie man es bei einem Schauspieler vermuten könnte, betreibe er selten. „Natürlich beobachtet man die Leute, weil der Mensch ein Affe ist, der nichts lieber sieht als einen anderen Affen“, schmunzelt er, aber Rollenvorbilder finde er dabei nicht. „Man ist nicht zu Hause und doch nicht an der frischen Luft“, zitiert er einen klassischen Spruch und legt mit „Ins Kaffeehaus geht man, wenn man zum Alleinsein Gesellschaft braucht“ eine Alfred Polgar zugeschriebene Weisheit nach.

Weg aus Wien

Auch wenn der geborene Wiener mit seiner Liebe zum Kaffeehaus einem hartnäckigen Wien-Klischee gerecht wird, verließ er seine Heimat unmittelbar nach dem Studium. Das erste Engagement führte den Jungschauspieler ans Staatstheater Kassel, dem renommierte Häuser wie das Berliner Schillertheater, das Schauspielhaus Zürich oder die Hambur- ger Kammerspiele folgten. „Ich wollte gar nicht zurück nach Wien. Doch dann kam eine Anfrage vom Burgtheater, dem man bekanntlich nicht absagt. Außerdem war die Rolle schön. ‚Platonov‘, ich habe den Sergej Woinizew gespielt, Achim Benning hat inszeniert.“

Das war 1995. Joseph Lorenz blieb neun Jahre. „Ich bin 2004 weggegangen, weil ich erkannt habe, das ist für mich ein Zimmer ohne Aussicht.“ Also zog er der fest angestellten Perspektivenlosig- keit die freiberufliche Unsicherheit vor. Für das Theater in der Josefstadt hat er sich 2018 entschieden, „weil es sich gut gefügt hat“. Er fühlt sich angekommen.

Das Publikum schätzt ihn, die nicht gelesenen Kritiken sind größtenteils wohlwollend. Manche euphorisch. Joseph Lorenz hat sich den Ruf des Vielkönners erspielt, er gilt als eine Art Wunderwaffe, die schnell auch mit einer Lesung einspringen kann, wenn pandemiebedingt eine Vorstellung wackelt. „Natürlich mache ich das, wenn irgendwo Not besteht, weil ich finde, die Leute nach Hause zu schicken und das Theater zuzusperren ist das Schlimmste, was passieren kann. Und wenn nur zehn Leute dableiben, liest man eben für diese zehn.“

Joseph Lorenz: In Gesellschaft alleine sein

Bild: Andreas Jakwerth

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Konfliktreiche Männer

Aktuell ist Joseph Lorenz in drei Produktionen zu sehen, mit „Leopoldstadt“ soll noch in dieser Spielzeit eine vierte folgen. Für seine Darstellung des Doktor Stauber sen. in der Schnitzler-Adaption „Der Weg ins Freie“ lobte ihn ein Kritiker als „Kostbarkeit im Ensemble“, in „Medea“ gibt er an der Seite von Sandra Cervik als Jason „Einblick in eine Ehe, die durch sehr viel und heftiges Leben in der Substanz verloren hat“. Wie die beiden Protagonisten versuchen, der Erosion ihrer Ehe entgegenzuwirken, und dabei scheitern, gehört zu den berührendsten Theatermomenten der letzten Monate. Beide traumatisiert und unfähig, dem anderen Halt zu geben. „Es ist ein gegenseitiges Im-Stich-Lassen, aus Missverständnissen geboren, daraus, nicht mehr miteinander reden und zuhören zu können“, erklärt der Hauptdarsteller. „Beide sind Opfer und Täter, das ist nicht einseitig determiniert, sondern es wechselt. Wie es eben ist. Dinge sind mitunter sehr komplex, was ja auch ihren Reiz ausmacht.“

Joseph Lorenz: In Gesellschaft alleine sein

Foto: Andreas Jakwerth

Zur Person: Joseph Lorenz

Geboren in Wien, Schauspielausbildung am Salzburger Mozarteum, erstes Engagement am Staatstheater Kassel, danach an führenden Bühnen in Deutschland und der Schweiz engagiert. 1995 holte ihn Claus Peymann ans Burgtheater, das er 2004 wieder verließ. Seit 2018 Ensemblemitglied im Theater in der Josefstadt, wo er aktuell u. a. in „Medea“ und „Das Konzert“ zu sehen ist.

Als komplex im Sinne von beziehungsreich könnte man auch die Figur des gefeierten Pianisten Gustav Heink in „Das Konzert“ beschreiben, hantelt sich dieser doch geübt von Affäre zu Verhältnis. „Hermann Bahr ist es gelungen, einen Topos auf die Bühne zu stellen. Gustav Heink ist ja kein schlechter Kerl. Er ist ein Trottel, aber kein schlechter Kerl. Er hat eine wunderbare Frau und glaubt, sich selber den großen Chef vorspielen zu müssen, was im Zuge des Älterwerdens natürlich immer schwieriger wird.“

Die wunderbare Frau spielt erneut Sandra Cervik, von deren Ehemann im echten Leben, Herbert Föttinger, Joseph Lorenz die Rolle übernahm. Er spielt sie, nach Reichenau vor zehn Jahren, zum zweiten Mal. „Das kommt sehr selten vor, denn man spielt eine Figur meist nur einmal“, weist er auf eine selten thematisierte Problematik des Berufs hin. „Man hat als Schauspieler für eine Rolle immer nur ein bestimmtes Zeitfenster, und wenn man das hinter sich gelassen hat, ist auch die Rolle für immer vorbei. Barenboim kann das Neujahrskonzert 2009 dirigieren, und er kann es 2021. Ich aber kann, um ein Beispiel zu nennen, den ‚Hamlet‘ nicht mehr spielen.“ Es sei also ein Glück, wenn man für eine Rolle, die man gerne spielen würde, im richtigen Alter sei und auch besetzt werde.

Joseph Lorenz: In Gesellschaft alleine sein
„Medea“. Scheitern einer Liebe: Joseph Lorenz – in der Rolle des Jason – mit Sandra Cervik

Foto: Astrid Knie

Joseph Lorenz: In Gesellschaft alleine sein
„Das Konzert“. Partnertausch auf der Almhütte: Alma Hasun xander Pschill (Franz Jura).

Foto: Moritz Schell

Ulrich Seidl & Rosamunde Pilcher

In Joseph Lorenz’ Filmografie finden sich Juwele wie „Jack“, „Bösterreich“ und „Paradies: Hoffnung“, aber auch eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung.„Ich wollte einmal nach Cornwall“, redet er nicht lange um den heißen Brei herum. „Man muss aber dazusagen, dass das Team hochprofessionell arbeitet. Ob es einem gefällt, ist eine andere Sache.“
In filmhistorischer Erinnerung dürfte indes Ulrich Seidls „Paradies: Hoffnung“ bleiben, in dem Joseph Lorenz einen Diätarzt spielt. „Wie Seidl an seine Projekte herangeht und sie umsetzt, ist ein Kontinent für sich. Man hat sehr selten das Gefühl, auf seinen Erfahrungsschatz zurückgreifen zu können. Das ist absolute Terra incognita, und genau deshalb ist es so spannend.“ Kein Wohlfühlunternehmen. Mitunter erschreckend. Er selber musste sich in seiner Rolle in eine 13-Jährige verlieben. „Ich sage es vorsichtig: Das ist nicht so schwer. Nicht weil einem das jeden Tag passieren würde, aber weil es möglich ist. Weil der Mensch ein Abgrund ist. Es kommt ja zu gar nichts, aber dadurch ist der ganze Film getragen von einer Latenz, und das lädt ihn unglaublich auf.“

Auch wenn er gerne dreht, ist er „zu 80 Prozent, wenn nicht mehr, Bühnenschauspieler“. Weshalb auch die Antwort auf die letzte Frage nicht überrascht. Womit beschäftigt sich Joseph Lorenz, wenn er sich nicht mit Theater beschäftigt? „Mit Theater!“ Denn darauf laufe letztendlich alles hinaus.

Zu den Spielterminen von „Medea“ im Theater in der Josefstadt