Freibrief von Julya Rabinowich: Wider den Blick
Der Fall sexuellen Missbrauchs in Avignon sprengt die Grenzen des Erträglichen. Die Frau, die zum Objekt wird. Keine Würde, keine Worte und keinen Willen mehr hat.
Die Frau: eine leere Leinwand, eine zu befüllende Hülle, eine Projektion, verborgen hinter sieben Schleiern, eine Fata Morgana, eine Befriedigung, eine Erfüllungsgehilfin. So weit die noch eher positiven, nichtsdestotrotz fürchterlichen Zuschreibungen des männlichen Blickes, der auf die Frau fällt, seit es Menschen gibt. Er fiel auf sie in steinzeitlichen Dörfern, in aufblühenden ägyptischen Städten, in mittelalterlichen Burgen, auf rauschenden Festen bei Hofe, in Kirchen und Tempeln, bei Wahlen, während Kriegen und im Frieden, in der Aufklärung, während Revolutionen, ein langer, langer Blick, der durch die Jahrtausende fällt und, sie durchdringend, bis in die Gegenwart. In manchen blickenden Augen lauert das Böse. Die Frau wird zur ahnungslosen Susanna im Bade, sie wird zur Medusa, deren Kopf abgehackt werden muss vom jugendlichen Helden, zur dämonenbuhlenden Hexe, die man vernichten muss, sie ist immer und für alle männlichen Belange verantwortlich.
Cherchez la femme. Die Mutter ist schuld. Und wenn es nicht die Mutter ist, dann ist es die Ehefrau, die Geliebte, die Tochter, die Schwiegermutter, die Chefin. Bei sexueller Gewalt sei es bestimmt nicht so zugegangen, wie die Betroffene es beschreiben würde, bestimmt stehe mehr dahinter, böswillige Rachegelüste, Geltungssucht. Sie kann ein Fan einer Band gewesen sein, eine Schülerin, eine Sportlerin, eine Künstlerin. Jede Einzelne wird kritisch beäugt werden, der Blick, der sie zum Objekt stempelt, kehrt zurück, um die Arbeit des Blickenden zu vollenden und sie auch noch zur Täterin zu machen. Warum ich das hier schreibe, mit neuerlicher Erschütterung wegen dem, was möglich ist: Der Fall sexuellen Missbrauchs in Avignon sprengt die Grenzen des Erträglichen.
Ein Ehemann hat seine zu Beginn der nur durch Zufall bekannt gewordenen Verbrechen sechzigjährige Frau betäubt, um sie dann von über 80 anderen Männern vergewaltigen zu lassen. Über Jahre. Die Taten sind von ihm auf Video aufgezeichnet worden, ein Blick, aufrechterhalten für die Unendlichkeit. Diese Männer lebten in der Nähe, einer war ein Nachbar, den der Ehemann in der Bäckerei grüßte. Einige von ihnen trugen Geschlechtskrankheiten in sich, von denen nach Auffliegen des Falles vier beim Opfer diagnostiziert wurden. Sie waren Krankenpfleger, Journalist, Soldat, einige angesehene Menschen, sie waren Familienväter und Alleinstehende. Keiner von ihnen verständigte die Polizei, nicht einmal im Nachhinein, niemand fand etwas dabei, eine hilflose, ihres Bewusstseins beraubte Frau zu vergewaltigen, sie zur Leinwand seiner kranken Phantasien zu machen. Zu einer Puppe.
„Funken“: Die Systemsprenger
Jung. Begabt. Smart. Divers. In Till Wiebels preisgekröntem Stück „Funken“ zeigt eine Gruppe couragierter Teenager, wie weit man mit Empathie, Solidarität und Idealen kommen kann. Die Macht des Widerstands endet nicht einmal auf dem Mond. Weiterlesen...
Ein Objekt hat keine Worte, keine Würde, keinen Willen. Doch sie alle haben ihre Rechnung ohne die Betroffene gemacht. Sie schüttelte das Verpuppte ab. Sie wolle das Gesicht aller Opfer sein, denen Ähnliches widerfahren ist, sagt die nun zweiundsiebzigjährige Gisèle Pelicot. Auf ihr Verlangen wird der Prozess öffentlich. Die von ihrem Mann bei ihren Taten auf Video Festgehaltenen sollen der Anonymität entrissen, der Blick umgekehrt werden: Die Scham solle nun die Seiten wechseln, sagt sie dazu. Die Scheidung läuft.
Die Bilder des Prozesses sind verstörend. Die Täter stehen in einer langen Schlange an. Sie verstecken ihre Gesichter. Der Blick der Öffentlichkeit soll sie nicht treffen. Hier, im Gerichtssaal, ertönen haarsträubende Erklärungen. „Wenn der Ehemann dabei ist, ist das keine Vergewaltigung.“ Das Objekt wurde doch großzügig angeboten! Noch verstörender ist die Empörung des Ehemannes. Sein Leben sei ruiniert. Und: Seine Frau sei schuld daran. Sie habe seinen Wunsch des Partnertausches abgelehnt. Er hatte quasi gar keine andere Wahl. Sogar jetzt noch wird versucht, sie zur Verantwortlichen zu machen, weil sie sich dem Blick entzog und ihn umkehrte. Dieser Freibrief ist dieser mutigen, unendlich starken Frau gewidmet. Möge sie Freiheit, Ruhe und ein Leben haben, das sie so führt, wie es nun für sie am besten ist.