Der Sommer geht. Mit Gott, langsam, aber er geht. Er war sehr groß, hat Früchte gejagt und den Wein mit Süße beschwert. Hoffentlich glykolfrei! Auf den Fluren losgelassen sind nicht nur Winde, und manches Haus wird nicht gebaut, aber rundum erneuert. Im Theater laufen einige Dinge ja etwas abweichend ab als anderswo, das Alpha und das Omega sind nicht immer klar zu unterscheiden, manches ist zeitlos, anderes lose in der Zeit, alles ist möglich, nichts ist jemals vergangen. Eine Bühne bedeutet Zeitverlust, Schwere und Schwerelosigkeit, den Eintritt in ein schwarzes Loch, das sich in einem White Room öffnet. Raum und Realität dehnen sich ins Unendliche.

Anzeige
Anzeige

Manches Mal spürt man es in der Ungeduld, den Saal wieder verlassen zu wollen. Manches Mal spürt man es in der Hingabe, zum wiederholten Male in dieselbe Darbietung zu kommen, die niemals die gleiche ist. Die Flure jedenfalls vibrieren mit der Erwartung neuer Zeitalter.

Der Herbst ist hier, in dieser ganz eigenen Welt, nicht das Einstimmen auf den langen Schlaf des Winters. Hier übernimmt der Herbst ungefragt das Frühlingserwachen, statt der Dunkelheit der verkürzten Tage öffnen sich Vorhänge, Abgründe, gleißende Lichter und Himmelfahrten, solcher Art, wie es nur Theater ins Leben zu kommen schafft.

Bigger than life. Hier wird nicht geschlafen, hier wird nicht gezaudert, hier wird wiedergeboren, mit allem, was dazu notwendig ist. Mit Blut und Eingeweiden, mit Engelsgesang und Teufelshohn, mit dem Dernier Cri des Wiedergeborenen, der noch in saubere Tücher gebracht werden muss, wie gesagt, es gibt so viel zu tun!

Wenn die langen Nächte über uns zusammen- schlagen, wenn das Licht in Fenstern schwindet, wird Theater das sein, was die Maus Frederick in dem berühmten gleichnamigen Buch tut und tun muss. Ein angeblich für Kinder gedachtes Buch, das aber einfach jeder Mensch kennen sollte, auch wenn er jenseits des einstelligen Alters angekommen ist: Frederick speichert die Wärme und die Farben des Sommers, während die anderen Mäuse ihn mit Unverständnis abstrafen, er solle lieber arbeiten statt rumzusitzen!

Zur Person: Julya Rabinowich

ist eine österreichische Schriftstellerin, Dramatikerin, Kolumnistin, Malerin, Übersetzerin.

Anzeige
Anzeige

Aber er arbeitet doch, er leistet Schwerarbeit, um alle Eindrücke in sich aufzunehmen, die der Sommer bietet, um alle diese Bilder von Wärme und Hellig- keit, vom Genuss des Lebens in sich zu speichern und sie später in kleinen Häppchen wiederzugeben, wenn der Mäuseschwarm unter Finsternis und Kargheit leidet. Und das Theater wird gleichzeitig weit mehr sein als Frederick und sein Trost. Das

Theater wird diejenigen, die sich ihm ausliefern, an die Kante bringen, über die man fallen kann wie über den Weltscheibenrand. Es wird verstören. Es wird empören. Es wird die Gretchenfrage stellen, die für jeden und jede eine andere ist.

Die Antwort darauf wohnt in zaudernden Her- zen, in flauen Magengruben, in verknöcherten Ge- danken. Es wird Schallmauern durchbrechen, und dieser Durchbruch kann – wie ein Durchbruch des Blinddarms – gefährlich und schmerzhaft sein, aber auch wie der Durchbruch eines aufsteigenden neuen Superstars glamourös, euphorisierend und berauschend.

Die liegende Acht ist das Wappentier des Thea- ters. Hier ist alles ewig. Ein kleines bisschen Horror- show ebenso wie große Worte großer Schreibender. Erstarrte Augenblicke. Chroniken der Ermüdung. Man wird gefordert und man wird fordern. Will- kommen, neue Saison. Auch du wirst vorüberziehen.

Auch du bist für immer.