Aktivkohle kann man auch essen. Alle, die schon mal Verdauungsprobleme hatten, wissen das. Man kann sich Aktivkohle aber auch ins Gesicht schmieren oder eine Handvoll davon nehmen und dann in die Hände klatschen. Kann man alles machen. Was dann passiert, sehen Sie auf den Fotos oben.

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Proberaum in den Kammerspielen unten auf der Rotenturmstraße. Es ist herrlich. Draußen rempeln sich die Touristen gegenseitig über den (Vorweihnachts-)Haufen. Unten ist’s ruhig. Warm. Die Probebühne zu Eugène Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“ ist nur mit Packpapierwänden und Packpapiertüren ausgestattet. Vorerst. Wir sind im Probebetrieb früh dran – die Premiere ist erst am 11. Jänner. Links steht ein Klavier – auf dem Michael Dangl in seiner Rolle als Lenglumé auch spielen wird. Dangl kann das im Übrigen ziemlich gut.

Ob es die Aktivkohle bis zur Premiere und ins Stück schaffen wird, ist noch ungewiss. Das erste Mal, dass sie ausprobiert wurde, ist beim BÜHNE-Shooting, und sie sorgt für eine ziemlich nachhaltige Sauerei. „Man stolpert überall über Kohle“, sagt Regisseurin Alexandra Liedtke und lacht – sie kommt aus Dortmund, ihre Vorfahren waren Bergleute, sie weiß, wovon sie spricht.
Das Stück, das sie inszeniert, ist ein Klassiker des französischen Boulevardtheaters. Übersetzt hat es Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek 1988, uraufgeführt wurde es im selben Jahr an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.

Der Inhalt: An seinem Namenstag erwacht Lenglumé mit einem Filmriss. Die Hose? „Nanu, ich bin ja drin.“ Im Folgenden findet er nicht nur einen fremden Mann in seinem Bett, sondern auch die Indizien für einen Mord in seinen Taschen. „Eine Gedächtnislücke! Immer ist da diese Lücke!“ Der Versuch, einerseits seine vermeintliche Schuld zu verwischen und andererseits vor seiner Frau zu verheimlichen, dass er überhaupt das Haus verlassen und offenbar extrem gesoffen hat, führt zu einem so atemlosen wie komischen Verwirr- und Versteckspiel und der Frage, wie weit man geht, um seine gesellschaftliche Position und letztlich sein Leben zu retten. Lenglumé geht offensichtlich sehr weit.

Alexandra Liedtke
Alexandra Liedtke ist erfolgreiche Theater- und Opernregisseurin. Sie stammt „aus einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund“, wie sie sagt. Sie lebt mit ihrer Familie in Salzburg. Das Theater in der Josefstadt ist für sie ein Nachhausekommen zu ihrem Team. „Teamgeist ist vielleicht das Wichtigste, wenn man Regisseur*in ist. Natürlich braucht man auch Fantasie, Willenskraft und den Wunsch zu gestalten, aber.“ die Lust auf Menschen ist wahrscheinlich das Essenziellste."

Foto: Marcel Urlaub

Die Sache mit dem Tempo 

Es ist eine Komödie, die vom Tempowechsel lebt. Vom Gasgeben bis zum Anschlag – um dann wieder Pausen wirken zu lassen.

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Alexandra Liedtke: „Es geht bei einer Komödie immer ums Timing – um den falschen Moment, um den richtigen Moment. Es ist ein Stück, das auf Verwechslung und Verheimlichen basiert, und je schneller das Tempo der Inszenierung wird, desto größer wird die Not der Protagonisten. Lenglumé etwa möchte von Anfang an die Bühne verlassen, um sich im Bad frisch zu machen – er hat aber wegen des Tempos der Ereignisse nie die Gelegenheit dazu. Dadurch entstehen weitere Missverständnisse, weil er nie einen Moment hat, klar nachzudenken.“

Michael Dangl, der den Lenglumé spielen wird, nickt: „Man muss die Musikalität des Stücks finden. Wie ist das Tempo, wo sind die Sprünge, die Wechsel, die man machen muss, damit es am besten funktioniert? Der Schlüssel liegt für mich in der Genauigkeit des Betrachtens der Situationen und auch in einer gewissen Langsamkeit. Das Stück holt und trifft das Publikum auf vielen Ebenen.“

Dangl atmet ein und denkt nach, Alex­andra Liedtke steigt sofort ein – Theater-Pingpong: „Eugène Labiche hat die Zuschauer seines Theaters auf die Bühne gebracht, die dann entweder sich oder ihre Nachbarn wiedererkannt haben. Dadurch hat er seine Welt sehr anschaulich gemacht für sein Publikum. Er hat nie gesagt: ‚Die anderen sind so!‘ Sondern: ‚Wir, die wir da unten sitzen, sind so wie die da oben.‘ Das ist die Kunst.“

Dangl nickt: „Labiche war kein Ankläger, er war ein Aufzeiger. Er zeigt mit einer unglaublichen Leichtigkeit, wie bürgerliche Fassaden wegen Kleinigkei-ten aufbrechen können – und wie schnell Menschen dem nachgeben, weil es offenbar eine große Sehnsucht danach gibt.

Lenglumé hat in dieser Nacht in etwas hineingeschnuppert und in Abgründe von sich selbst geblickt, ohne sich daran erinnern zu können. Die aber einen Nachgeschmack hinterlassen hat von etwas, das man nicht gerne wieder aufgeben möchte. Weil das, wohin man zurückkommt, die Taufe vom Sohn des Cousins ist. Also nicht besonders aufregend. Ein wenig erschreckend ist auch, dass er sich nie fragt, warum er einen Mord begangen haben soll. Er hält es schlichtweg für möglich.“

Die Affäre Rue de Lourcine
„Man stolpert immer über die Kohle.“ Diesen Satz wollte Regisseurin Alexandra Liedtke hier stehen haben. (Gerne!) Die Fotos zeigen, was passiert, wenn man mit Publikumsliebling Michael Dangl und Aktivkohle spielt.

Foto: Marcel Urlaub

Wie geht die perfekte Pause? 

Aber wie spielt und inszeniert man die perfekte Pause? Gerade das Wiener Theater mit Schauspielern wie Schenk und Co hat diese ja perfektioniert.

Dangl: „Die Pause ist ein Ausdruck von Sprachlosigkeit im Moment, so wie die Sprache Ausdruck von etwas ist, wo­r­über man besser geschwiegen hätte. Pausen im Spielen muss man finden …“

Alexandra Liedtke: „Als Regisseurin sehe ich mich als Komponistin und frage mich – anders als in der Oper: Soll ich die Pause lassen? In der Oper bekomme ich ein fertiges Werk, bestehend aus dem Libretto und der Komposition, da hat bereits jemand die Pausen gesetzt, und die Musik sagt mir, ob jemand lügt oder nicht. Anders ist es beim Theater. Da hat man nur das unbearbeitete Libretto in der Hand. Bei den Proben habe ich gemerkt: Hoppala, da waren wir zu schnell, da haben wir über etwas hinweggelesen. Daher haben wir uns heute viel Zeit für die Pausen genommen, um die Inhalte besser zu verstehen und auch um den nächsten Gedankenbogen zu erfassen.“

Und wo soll das hinführen? „Das Kompositorische am Ende der Proben wird sein, dass wir diese Pausen wieder zusammenziehen, dass wir sagen: Diese zwei Pausen machen wir nicht – dafür halten wir den Gedanken länger. Wir machen uns Notizen von den Dingen, die funktionieren – Schauspieler wissen sehr genau, was funktioniert und was nicht –, und so setzen wir alles am Ende wieder neu zusammen.“

Man kann in der Komödie nichts wegspielen. Es muss gesagt werden. Es muss gespielt werden

Alexandra Liedtke, Regisseurin

Aktivkohle klebt

Michael Dangl war sich inzwischen Hände und Gesicht waschen. Das hat gedauert, weil Aktivkohle bei der Säuberung ziemlichen Widerstand leistet. Er grinst. „Ich glaub, wir müssen aufpassen, dass das Publikum davon nichts abbekommt, wenn wir wirklich damit arbeiten wollen.“

Dann steigt der Publi­kumsliebling wieder in unser Interview ein. „Wichtig ist, dass man an komische Rollen mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Existenzialität herangeht wie an alle anderen. Man sollte auch vermeiden, dass man gerade bei diesem Stück in die Falle tappt, indem man Äußerlichkeiten herstellt – das Thema Betrunkenheit auf der Bühne ist nicht leicht, es gibt da einfach zu viele Klischees.“

Um genau diese Gratwanderung zwischen outriertem Schwanken und dem Torkeln auf den Punkt hinzubekommen, bedarf es neben der Schauspielkunst auch eines exakten Briefings der Trainerin wie auch der Regisseurin. Liedtke: „Ich muss die Nöte der Figuren ernst nehmen, erst dadurch entsteht die Komik. Wenn ich eine Tragödie inszeniere, füttere ich die Kollegen ganz anders. Ich mache dort längere Bögen. Bei der ‚Affäre Rue de Lourcine‘ ist das Publikum von Anfang an der Partner, es weiß in der alles entscheidenden Szene Bescheid, wo das Missverständnis liegt – nur die beiden besoffenen Männer haben es nicht verstanden. Die Freude entsteht dadurch, dass das Publikum längst im Bilde ist.“

Michael Dangl
Michael Dangl ist einer der Publikumslieblinge der Josefstadt. Er spielt, musiziert und schreibt. Das erste Mal stand er mit vier Jahren auf der Bühne des Wandertheaters „Karawane Salzburg“, das seine Eltern gegründet hatten. Übers Textlernen sagt er: „Gründliches Textlernen ist ein langsames, monatelanges Eintauchen in Stück und Charakter. Wenn die Proben losgehen, muss alles in mir sein, damit ich frei bin, zu gestalten.“

Foto: Marcel Urlaub

Jelineks spezielle Übersetzung 

Elfriede Jelinek hat das Stück aus dem Französischen übersetzt, und wenn man es als gelernter Wiener liest, dann ist man über weite Strecken erstaunt, wie mühelos Jelinek mit deutschen Floskeln um sich wirft.

Alexandra Liedtke: „‚Meine Fresse‘ ist ein Ausdruck, den ich zuerst als befremd­lich empfand. Ebenso ,Himmel, Arsch und meine Fresse‘. Aber es gibt auch wunderbare hiesige Ausdrücke wie ,Ich hab mich ang’haut‘. Es passt so gut in diesen bürgerlichen wienerisch-pariserischen Haushalt. Den Figuren passieren solche Ausdrücke einfach.“

Michael Dangl: „Ich habe schon einmal mit einer Jelinek-Übersetzung gearbeitet. Die haben wirklich Hand und Fuß – deswegen behandle ich das auch als das Werk einer Dichterin und versuche da möglichst wenig zu ändern. Es ist ziemlich durchkomponiert, was sie macht.“

Alles außer Langeweile

„Die Affäre Rue de Lourcine“ kommt mit einem sehr kleinen Ensemble aus. Marcus Bluhm spielt den zweiten Komatrinker, Robert Joseph Bartl Lenglumés Vetter, Melanie Hackl das Hausmädchen und Kimberly Rydell Lenglumés Frau.

Eine letzte Frage haben wir noch. Was darf Komödie auf keinen Fall?

Dangl weiß es blitzschnell: „Langweilen.“

Liedtke lacht: „Wollte ich auch gerade sagen. Sie darf nicht verletzen, auch wenn man mit Themen spielt, die verletzend sein könnten – aber sie sind in unserem Fall nie ein Angriff nach außen. Komödie braucht viel Hingabe an die Rolle und an die Sprache. Man kann in der Komödie nichts wegspielen. Es muss gesagt werden. Es muss gespielt werden.“

Gibt es nach solch schönen Sätzen noch etwas zu fragen? Nein. Also zusammenpacken, Kohle abklopfen und raus in den Vorweihnachtswahnsinn – die Sehnsucht nach der Ruhe im Theater bleibt.

Ein schönes Gefühl.

Hier zu den Spielterminen von Die Affäre Rue de Lourcine im Theater in der Josefstadt!