Einer für alles: Heilige Schrift I von Wolfram Lotz
Auf 900 Seiten entwickelt Wolfram Lotz einen Gedankenstrom, der in erster Linie aus alltäglichen Beobachtungen besteht, aber ungemein mitreißend ist. Ein Total-Tagebuch von flirrender Leichtigkeit.
„Und plötzlich dachte ich: Es wäre einmal tatsächlich über ALLES zu schreiben, genau an diesem Ort, an dem für mich erstmal so wenig ist“, schreibt Wolfram Lotz, den man unter anderem als Autor des Stückes „Die Politiker“ kennt, in seiner 900 Seiten starken Gedanken- und Beobachtungsansammlung „Heilige Schrift I“. Dass ALLES tatsächlich immer auch alles sein kann, ist kein Geheimnis. Für Lotz ist es unter anderem „cooles Licht über den coolen Dächern“, ein kaum ablösbarer Aufkleber auf einem Apfel oder eine chu-chuende Taube. Das Buchprojekt begann als eine Art Experiment. Ein Jahr lang wollte Wolfram Lotz über alles schreiben und schauen, was das mit ihm und dem Text machen würde. Anstoß war der Umzug seiner vierköpfigen Familie im August 2017 in ein Kaff im Elsass – ebenjener Ort, „an dem für mich erstmal so wenig ist“. Im Sommer 2018 vollendete er sein Werk und löschte es. Über einige Umwege ist ein Teil der Aufzeichnungen, die ursprünglich etwa 3.000 Seiten umfassten, nun dennoch erschienen.
Mitreißender Strom
Gut so, denn obwohl die „Heilige Schrift I“ ordentlich Gewicht auf die Waage bringt und auch der Titel im ersten Moment etwas anderes vermuten lässt, ist Lotz‘ Total-Tagebuch ein Werk von flirrender Leichtigkeit, dem man sich nicht so schnell entziehen kann. Der Stream of Consciousness, den Wolfram Lotz hier entfacht, ist auf überraschende Weise mitreißend. Wie auch seine Theaterstücke immer wieder beweisen, ist hier ein Autor am Werk, der nichts von tröpfelnden Absonderungen hält. Wenn Lotz loslegt, dreht er ordentlich auf.
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In „Heilige Schrift I“ folgt man dem 1981 geborenen und mit Preisen überhäuften Dramatiker auf seinen Morgen- und Nachtspaziergängen, fährt mit ihm im ICE und ist dabei, wenn er seine Kinder ermahnt, endlich ruhig zu sein. Man bekommt auch mit, wenn er sich andere Rollen überstülpt – wenn er etwa als Miley Cyrus oder Peter Handke Dinge erledigt. Oder eben nicht, denn „Peter Handke hat jetzt doch keine Lust, im Wald wandern zu gehen, weil es immer noch regnet, die ganze Zeit, das ist Peter Handke einfach zu nass.“
Moment für Moment
Ausgeklammert wird die Wiedergabe privater Gespräche, wie auch seine Beziehung zu N, seiner Freundin und Mutter seiner beiden Söhne. Trotz dieser Aussparungen und der teilweise ins Absurde driftenden Gedanken, bleibt der Text immer glaubwürdig – und ist in seiner Unmittelbarkeit großes Theater. Augenblickskunst allerfeinster Güte. Das haben auch die Münchner Kammerspiele gemerkt und sich sofort die Uraufführung gesichert, die – inszeniert von Falk Richter – im Mai stattfand.
In einem Interview mit der Zeitschrift Buchkultur formuliert es der Autor folgendermaßen: „Als eigentlich hyperneurotischer Bearbeiter habe ich mir gesagt: Das, was du hinschreibst, wird da so stehen, fertig. Das erhöht auch die Konzentration im Augenblick: Man steht Moment für Moment mit dem Bleistiftchen in einem Entscheidungskampf. Es geht immer um alles.“
Zur Person: Wolfram Lotz
Wurde 1981 in Hamburg geboren und ist im Schwarzwald aufgewachsen. Lotz ist vorwiegend Dramatiker. Sein erstes Stück „Der große Marsch“ wurde 2011 mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet, für sein Stück „Die lächerliche Finsternis“ wurde er zum Dramatiker des Jahres gewählt. Die Uraufführung des Stückes „Die Politiker“, das auch in „Heilige Schrift I“ vorkommt, fand 2019 in Berlin statt.