Ein Kind unserer Zeit: Visionäres Altes mit der Brisanz des Jetzt
Ödön von Horváths aufwühlendes Meisterwerk „Ein Kind unserer Zeit“ kommt an die Josefstadt. Gespielt von vier wunderbaren Frauen. Inszeniert von Stephanie Mohr. Ein Stück über den Irrsinn des Krieges, veröffentlicht 1938 und so aktuell, dass es wehtut.
Aktueller geht nicht. Von der Programmierung. Der Handlung. Der Klugheit der Sätze. Mehr am Punkt der Zeit kann ein Stück derzeit nicht sein. „Ja“, sagt Regisseurin Stephanie Mohr und nickt uns im Roten Salon des Theaters der Josefstadt zu, „er hatte etwas grässlich Weitsichtiges. Man liest es und denkt: Mein Gott, wie konnte Ödön von Horváth das alles wissen, das alles ahnen, das alles auf den Punkt bringen? Ja, wie bloß?“
Die Josefstadt bringt im Juni eines der intensivsten Meisterwerke der deutschsprachigen Literatur zur Premiere. Horváths „Ein Kind unserer Zeit“, veröffentlicht 1938 kurz nach dem Tod des Autors in Paris, ist im literarischen Original die Ich-Erzählung eines anonymen Soldaten, der durch Neid auf die anderen radikalisiert wird, in den Krieg zieht, dort verletzt wird und am Weg zurück an der Welt zerbricht. Stephanie Mohr hat das Buch zum Bühnenstück gemacht und lässt es vier Frauen spielen.
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Schicht für Schicht zum Kern
„Ich finde es spannend, wie Horváth sein Werk schichtweise aufbaut. Horváths Figur begegnet sich selbst in den verschiedensten Ausformungen, und genau da werden wir versuchen anzusetzen. Es ist eine Reise in das Innere, und zugleich ist da diese Begegnung mit der Außenwelt. Er kommt aus dem Krieg zurück, muss die Armee verlassen und muss jetzt mit dem Trauma dessen, was er angerichtet hat, was er erlebt hat, was er gesehen hat, was er selbst an Verbrechen begangen hat, in der Zivilgesellschaft zurechtkommen. Es ist das Aufdröseln eines Kriegstraumas.“
Mit den vier wunderbaren Josefstadt-Schauspielerinnen Katharina Klar, Susa Meyer, Martina Stilp und Therese Affolter ist Mohr gerade am Proben, als wir sie zum Interview treffen. Noch ist vieles „im Fluss, die Bühnenfassung ist zwar geschrieben, aber beim Proben erkennt man, dass vielleicht der eine oder andere Satz von einer anderen Frau kommen sollte, weil es aus dem Zusammenhang mehr Sinn ergibt“. Mohr nimmt einen Schluck aus ihrem Wasserglas. „Wie Horváth mit Vergangenheit und Gegenwart umgeht – mich erinnert das an einen David-Lynch-Film, wo man das Gefühl hat, dass man die erste Ebene gerade verstanden hat, und dann merkt man plötzlich: Moment mal, da ist ja noch was ganz anderes …“
Visionär des schrecklich Banalen
Vor kurzem hat Mohr am Landestheater Linz erfolgreich „Geschichten aus dem Wiener Wald“ inszeniert. Dort hat sie das Wien der Trafiken und rührseligen Walzermelodien zu einem blutroten Salon inklusive der dazugehörigen Gespenster gemacht. Beeindruckend. Und was erwartet uns jetzt an der Josefstadt?
Die Regisseurin lächelt. „Horváth hat 1937 Dinge beschrieben, die auch 1968 für den Vietnamkrieg oder später für den Irakkrieg gegolten haben. Als wir uns entschieden haben, das Stück zu machen, hat sich der Ukraine-Konflikt schon angekündigt, als er dann ausgebrochen ist, hat es uns richtiggehend geschockt, wie sehr die Sätze, die er geschrieben hat, auch heute fallen könnten und dass sein Schicksal sich auch heute vermutlich dutzendfach wiederholt.“
Weichen Sie uns gerade aus, Frau Mohr? Also: Wie wird die Inszenierung? Das Lächeln wird breiter: „Ich will nicht zu viel verraten, aber ich spanne in meinen Inszenierungen gerne einen Bogen der Zeitlosigkeit. Es wird Dinge geben, die ganz konkret auf Aktuelles Bezug nehmen, aber auch auf Zeiten davor. Das Schlimme ist, dass es da leider eine Allgemeingültigkeit gibt und dass die Systeme und Kriegsgründe und die Machtspiele und auch die Sinnsuche von sozial benachteiligten Menschen immer gleich bleiben.“
Stephanie Mohr muss zurück zu den Proben, die Zeit drängt, aber es läuft gut. Abgesehen von der Empfehlung, sich das Stück unbedingt in der Josefstadt anzusehen – und falls Sie Zeit finden sollten: Lesen Sie das Buch. Es wird Sie berühren und erschüttern.