Norma: Frau ohne Filter
Sie sagt, was sie denkt, und nimmt ernst, was sie fühlt. Norma ist die unverfälschte titelgebende Protagonistin eines existenziellen Dramas. Asmik Grigorian gibt damit am Theater an der Wien ihr Rollendebüt. Vasily Barkhatov inszeniert.
Drastisches Drama. Es gibt wohl kaum eine Oper, die eine Frauenfigur stringenter zeichnet und radikaler in den Vordergrund stellt als Vincenzo Bellinis „Norma“. Als geistliche Autorität verhindert sie einen Krieg, den ihre gallischen Landsmänner herbeisehnen. Zugleich führt sie ein verbotenes Doppelleben, liebt heimlich den römischen Feldherrn und Besatzer Pollione, zeugt mit ihm zwei Kinder und gerät, als diese Beziehung zerbricht, emotional völlig aus der Bahn. Ihr Leben beendet sie schließlich auf einem Scheiterhaufen, den sie selbst errichten lässt.
Es verwundert, dass die tragische Geschichte der Druidenhohepriesterin, deren „Casta Diva“ zum kollektiven musikalischen Bewusstsein zählt, in Wien szenisch schon lange nicht mehr zu erleben war. Vasily Barkhatov wird das nun ändern. Eigentlich hätte er das schon 2020 mit Asmik Grigorian in der Titelrolle am Theater an der Wien vorgehabt, ehe Corona die Spielpläne ausradierte. Von allen seinen verschobenen Produktionen sei das nun die letzte noch zu realisierende, erklärt der Regisseur im Interview.
„Ich habe über diese Oper nachgedacht, seit ich als Student eine traditionelle Inszenierung davon gesehen hatte“, erzählt er. „Später sah ich in Stuttgart die Interpretation von Jossi Wieler und Sergio Morabito und fühlte mich davon sehr inspiriert. Im Gegensatz zu einigen anderen Opern ist im Falle von ‚Norma‘ die Geschichte sehr klar und psychologisch nachvollziehbar. Man muss keine szenische Sprache finden, um das Libretto zu unterstützen, weil der Text Schritt hält mit Bellinis musikalischem Level.
Norma selbst ist nicht hysterisch, sondern alles, was sie tut, denkt oder fühlt, geschieht ohne Filter. Ihre Sinne sind stets bis zum Maximum aufgedreht. Alle anderen nehmen die Dinge lockerer. Für Pollione hätte ein Auffliegen der Liebesbeziehung auch keine Konsequenzen, für Norma schon. Sie ist wie eine Wagner-Figur in einer italienischen Liebesgeschichte. Die antike Würdenträgerin in einer modernen Welt. “
Norma ist wie eine Wagner-Figur in einer italienischen Liebesgeschichte.
Vasily Barkhatov, Regisseur
Sein Regiekonzept sei eigentlich Vincenzo Bellinis Konzept, meint er belustigt. Denn dass sich das Stück vor dem Hintergrund eines Wechsels von politischen Systemen abspiele – in diesem Fall Druiden versus Römer –, sei im Libretto festgelegt. Solche Umbruchszenarien seien natürlich immer aktuell und bräuchten deshalb auch keine exakte zeitliche Einordnung. „Mir geht es in meiner Arbeit nie darum, mir zu überlegen, wie ich das Publikum überraschen könnte. Natürlich sind visuelle Elemente und Ähnliches im Theater wichtig, aber zuerst brauche ich eine Geschichte, die mich inspiriert und die ich mit meinen Mitteln schlüssig erzählen kann.“
Ideale Norma
„Und man benötigt natürlich eine Sängerin, die den psychologischen Prozess nicht plakativ, sondern präzise ausdrücken kann. Asmik Grigorian kann das, weil sie auch eine großartige Schauspielerin ist“, so Vasily Barkhatov.
Diese Partie, so heißt es allgemein, zähle zu den schwierigsten für Sopranistinnen, da ihre Figur in kurzer Zeit alle erdenklichen menschlichen Zustände durchlaufe und man diese mit gesanglichen Mitteln, vom Belcanto bis hin zum Schrei, verdeutlichen müsse.
Asmik Grigorian stimmt dem zu.„Ich sehe Norma aber nicht als komplizierte Frau. Wenn man die religiösen Aspekte weglässt, sprechen wir über Dinge, die sich seit Jahrhunderten nicht verändert haben: Ein Mann verlässt seine Frau mitsamt den Kindern, um mit einer anderen zu leben. Das klassische Drama von Liebe, Eifersucht und Rache.“
Sie habe eine sehr spezielle Beziehung zu dieser Oper: „Meine Mutter Irena Milkevičiūtė war vielleicht die beste Norma aller Zeiten. Der Grund, warum ich mich entschieden habe, diese Rolle ebenfalls zu singen, ist, weil ich sie ihr widmen möchte. Meine Eltern lebten in der ehemaligen Sowjetunion und hatten nicht die Möglichkeiten, die wir heute haben, sonst wären sie wahrscheinlich weltberühmt. Ich habe in den Aufführungen meiner Mutter schon eines der Kinder gespielt, mich berührt Bellinis Musik sehr, es ist mir wichtig, diese nun selbst zum Ausdruck zu bringen. Für meine Mutter.“
Perfektes Alter
Für viele Sängerinnen ist „Norma“ der Karrierehöhepunkt. Dafür ist Asmik Grigorian entschieden zu jung. Was also bedeutet ihr die Rolle über den persönlichen Zugang hinaus? „Danke für das Kompliment, aber ich bin 43 und würde mich nicht als junge Sängerin bezeichnen. In diesem Business ist es schon eigenartig, erst bist du stets zu jung für alles Mögliche, und dann bist du plötzlich zu alt dafür.“ Sie lacht.
„Aus diesem Grund habe ich beschlossen, im perfekten Alter für alles zu sein, was ich singen möchte. Natürlich ist ‚Norma‘ eine große Herausforderung für mich, weil ich bisher weder Belcanto gesungen noch viel Erfahrung mit Koloraturen habe. Und ich weiß, ehrlich gesagt, auch noch nicht, wie ich es genau angehen werde. Deshalb brauche ich meine Mutter unbedingt als Motivation.“
Asmik Grigorian sieht sich selbst als Produkt des sogenannten Regietheaters. „Aber nicht, weil ich Kostümopern ablehne, sondern weil ich in genau diese Zeit hineingeboren wurde. Mein Interesse gilt der Interpretation, das ist auch meine Stärke.“
Sind aktuelle Bezüge das, was die Oper braucht, um relevant zu bleiben? „Ich kann nicht in die Zukunft sehen, aber ich weiß, dass Oper nie sterben wird. Um uns herum verändert sich ständig alles, nur die menschlichen Gefühle bleiben gleich, und in der Oper geht es genau darum. Deshalb wird sie bestehen.“
Zur Person: Asmik Grigorian
studierte Gesang in ihrer Heimatstadt Vilnius und zählt zu den erfolgreichsten Sopranistinnen ihrer Generation. Bei den Salzburger Festspielen überzeugte sie u. a. als Salome und Elektra, weitere prägende Partien der letzten Jahre waren die Titelrollen in „Manon Lescaut“, „Rusalka“, „Jenůfa“ und „Turandot“ sowie als Lady Macbeth. Die Norma am Theater an der Wien ist ihr Rollendebüt.
Vasily Barkhatov ergänzt: „Ich glaube, es ist ein Missverständnis von Teilen des Publikums und auch einiger Regisseure, zu denken, man müsse den Plot einer Oper lediglich in ein modernes Ambiente setzen, damit es aktuell funktioniert. Aber das Finden solcher äußeren Umstände ist nur die Basis. ‚Norma‘ könnte im Kaffeehaus spielen oder auf dem Mond, und es würde stimmig sein. Hier aber beginnt die eigentliche Regiearbeit erst, denn nun geht es darum, die tieferen Botschaften zu ergründen, um eine Geschichte wahrhaftig erzählen zu können.“