Obwohl man sich bei Elfriede Jelineks Theatertexten grundsätzlich nur auf sehr wenig verlassen und meistens kaum etwas vorhersagen kann, trifft eine Sache wohl auf jeden ihrer Texte zu: Wer sich damit auseinandersetzen und sie inszenieren möchte, hat einen Berg an Arbeit vor sich. Denn ihre ex­trem verdichteten Sprachmassen neigen schon bei der Lektüre dazu, sich vermeintlich unüberblickbar vor einem ­aufzutürmen. Die aus der Schweiz stammende Regisseurin Claudia Bossard hat sich davon schon im Literatur­studium nicht abschrecken lassen. Ganz im Ge­gen­teil. Für sie ging es mit der Auseinandersetzung mit Jelineks Textflächen erst so richtig los. „Ich war eine orientierungslose Studentin und habe mich im Studium damals ziemlich gelangweilt“, erklärt sie lachend, „bis wir uns in einem Seminar einer österreichi­schen Profes­sorin mit Elfriede Jelinek beschäftigt ­haben und ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass es keine Lösungen und kein Richtig oder Falsch gibt.“

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Alpinismus als Kolonialismus

Seit Claudia Bossard vor ungefähr einem Jahr für das Kosmos Theater „Das Werk“, den zweiten Teil der so­genannten Alpentrilogie, inszeniert hat, beschäftigt sie sich intensiv mit Jelineks Texten rund um das Bergbahn-Unglück von Kaprun, wobei – wie für die Autorin typisch – auch in der Alpentrilogie viele verschiedene Themen ineinander verflochten werden. 

„In den Alpen“ ist der erste Teil der ­Trilogie und wird von Bossard gerade für das Volkstheater vorbereitet. Ausgangspunkte gab es mehrere. „Die Drama­turgin Jennifer Weiss und ich haben während des Lockdowns sehr viel darüber ge­sprochen, ob das Aufwachsen mit den Bergen vor Augen unwei­gerlich dazu führt, dass man einen gewissen Größen­wahnsinn und Eroberungswahnsinn entwickelt“, so ­Bossard. Außerdem ging es, wie die ­Regisseurin mit hellwachem Blick erklärt, im Vorfeld auch oft dar­um, inwiefern Alpinismus die erste kolo­niale Strategie ge­wesen sein könnte. Als Bild hat sie unter anderem das Schweizer Matterhorn inspiriert, dessen Spitze geologisch einst zur Afrikanischen Platte gehörte.

„Après les alpes“

Außerdem hat sich die Regisseurin dazu entschieden, ihre Inszenierung nicht mit den letzten Sätzen von „In den Alpen“ enden zu lassen. Im zweiten Teil, „Après les alpes“, geht der in Graz lebende ­Autor Fiston Mwanza Mujila in einem fiktionalen Modus der Frage nach, was passieren könnte, wenn die Alpen in einem postalpinen Zeitalter verkauft und privatisiert würden, also nicht länger für Österreich nutzbar wären – und damit ein für viele Menschen wichtiger Bestandteil nationaler Identität wegbräche. „Die beiden Texte einander gegenüber­zustellen aktiviert das Denken und setzt die Thematik in einen globalen Kontext“, so Bossard. Warum genau dieser Stoff so an ihr hängen blieb? „Einerseits war es Zufall, andererseits ist Jelineks Sprache ein Meer, in das man immer tiefer hineinfällt“, lautet die Antwort der Regisseurin. Wichtig ist ihr außerdem, dass sie stets ganz genau weiß, warum sie ­welchen Stoff zu welcher Zeit macht. 

Welches Jelinek-Stück sie gerne als Nächstes inszenieren würde? „Da gibt es viele“, meint Claudia Bossard und fügt nach einer kurzen Pause lachend ­hinzu: „Vielleicht ihre extrem umfangreiche Website, auf der sie regelmäßig neue Texte veröffentlicht". Das wäre dann nicht bloß ein Berg an Arbeit, sondern eine echte Mammutaufgabe. 

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Zur Person: Claudia Bossard

Seit 2017 arbeitet die gebürtige Schweizerin als freischaffende Regisseurin. Die ehemalige Studentin der Literaturwissenschaft ­inszenierte 2019 Elfriede ­Jelineks umfangreiches Stück „Das Werk“ am Kosmos Theater. 

Weiterlesen: Studie zu Diversität am Theater

Infos zu „1000 Wege – Ein Telefonat", dem aktuellen Stück des Volkstheaters, finden Sie hier