Auf die Plätze, fertig, los!
Frank Castorfs Theater ist Hochleistungssport. Auch für einen geübten Bühnenverausgaber wie Franz Pätzold. Gleichzeitig fühlt es sich so an, wie mit der coolsten Band der Stadt zu spielen, findet Marie-Luise Stockinger. Beide sind demnächst in Castorfs Inszenierung des einstigen Skandalstücks „Heldenplatz“ zu sehen.
Über das Theater als Augenblickskunst, die vermutlich wie keine andere den Moment feiert, ist schon viel gesprochen worden. Bei unserem Interview im Arsenal erweitern Franz Pätzold und Marie-Luise Stockinger das übliche Panorama an Beschreibungen um einen etwas praxisorientierteren Blickwinkel. „In der Probenarbeit mit Frank Castorf skizziert man die Szenen nur an, der Text wird mit dem Mikro reingegeben. Das heißt, man braucht eigentlich keinen gelernten Text“, hält die Schauspielerin fest.
„Das ist super, aber hintenraus ein riesengroßes Problem, weil man das Ganze irgendwann lernen muss und es meistens mehr ist, als man währenddessen denkt“, ergänzt Franz Pätzold. Er lacht. Doch das ist ein Problem für den Zukunfts-Franz. Der Gegenwarts-Franz, der so Dinge sagt wie „Ich mag es nicht, wenn sich Theater wie Malen nach Zahlen anfühlt“, freut sich, dass er durch diese Art zu proben mehr Zeit zum Leben hat.
Kein unwesentlicher Punkt, wenn man bedenkt, dass das Theater – neben der bereits erwähnten Sache mit dem Augenblick – wohl auch eine der lebendigsten Kunstformen ist. Nicht umsonst werden Rollen im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn mit Leben gefüllt – das ist allerdings wieder eine andere und im Falle Castorfs tatsächlich eher irrelevante Geschichte. Doch dazu gleich mehr.
Erweckungserlebnis
„Ich bin einfach Franz – mit all den Dingen, die ich so mitbringe“, wird Franz Pätzold etwas später in einem anderen Zusammenhang sagen. Ins Arsenal, wo das „Heldenplatz“-Ensemble gerade probt, hat er, neben seiner zweieinhalbjährigen Tochter auch eine ordentliche Portion Plauderlust mitgenommen. „Er spricht deshalb jetzt so viel, weil er in der Probe später kein Wort sagen wird“, wirft Marie-Luise Stockinger ein und schaut ihren Kollegen dabei lachend von der Seite an.
„Nach mehreren Arbeiten mit Herrn Castorf weiß ich einfach, dass es das Beste ist, die Klappe zu halten, weil man ansonsten alles zurückbekommt. Der Textstapel wird immer größer, die Probleme werden immer größer, es wird immer anstrengender. Irgendwann fällt ihm ohnehin auf, dass da noch jemand ist“, erläutert Franz Pätzold sein auf Erfahrung gegründetes Vorgehen. Tatsächlich ist der gebürtige Dresdner ein Fixstarter in den Inszenierungen des ehemaligen Volksbühne-Intendanten, der dafür bekannt ist, seinen Spieler*innen ein hohes Maß an Verausgabung abzuverlangen.
„Ich wurde nach den beiden Arbeiten mit Frank Castorf darauf angesprochen, wie viel Kraft ich nicht hätte. Die hatte ich immer schon, nur wollte das niemand sehen.“
Marie-Luise Stockinger
Marie-Luise Stockinger arbeitet zum dritten Mal mit dem Berliner Regisseur zusammen – sie gehörte sowohl zum Ensemble der Jelinek-Inszenierung „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ als auch zu jenem von „Zdeněk Adamec“. „Das klingt immer dermaßen platt, weil das so viele sagen, aber für mich war das schon eine Art von Erweckungserlebnis“, so Stockinger. Sie setzt nach: „Wenn man Lust hat, zu schwitzen und seinen eigenen Rahmen zu sprengen, ist die Arbeit mit Castorf eine großartige Erfahrung. In meiner Anfangszeit am Burgtheater habe ich häufig typische Mädchenrollen gespielt. Dann macht man so eine Arbeit und wird plötzlich darauf angesprochen, wie viel Kraft man nicht hätte. Die hatte ich immer schon, nur wollte das niemand sehen. Deshalb finde ich es total bereichernd, mit ihm zu arbeiten – man kommt in ganz unbekannte Regionen seiner selbst.“
Angstfreiheit
„Das Wichtigste ist die Befreiung von der Angst. Angstfrei kannst du alles. Sogar auch noch gut singen“, sagte Frank Castorf, der sich nun Bernhards „Heldenplatz“ vorgenommen hat, einmal in einem Interview. Ob sie das auch so empfänden, wollen wir von Marie-Luise Stockinger und Franz Pätzold wissen. „Ich glaube, dass wir, obwohl häufig das Gegenteil behauptet wird, in den Schauspielschulen schon mit dem Gedanken erzogen wurden, dass man Dinge richtig oder falsch machen kann. Das ist hier ausgeschaltet, weil es nicht in deinem Verantwortungsbereich liegt.
Die Angst, etwas falsch zu machen, kann man getrost abschütteln“, findet Franz Pätzold klare Worte und fügt hinzu, dass am Ende des Tages das Gefühl von Freiheit oberste Priorität hat. Marie-Luise Stockinger ergänzt: „Für mich geht es auch um eine Überwindung der Angst. Bei ‚Zdeněk Adamec‘ dachte ich immer wieder: Möglicherweise überlebe ich diesen Abend nicht noch mal. Und dann muss man einfach reinspringen, man wird schon irgendwo aufschlagen. Und währenddessen zeigt man der Angst den Mittelfinger.“
Außerdem sei Castorf auch jemand, der, so simpel es klingt, seinen Job macht – der den Spieler*innen also keine Aufgaben aufbürdet, die eigentlich im Verantwortungsbereich der Regie liegen, sagt Pätzold. „Und wenn es eins auf die Nase gibt, übernimmt er die volle Verantwortung dafür. Er schützt sein Ensemble und achtet darauf, dass es auf der Bühne glänzen kann.“ Er könne schon einmal laut werden, merkt Marie-Luise Stockinger an, aber er echauffiere sich eigentlich nur dann, „wenn er merkt, dass irgendwas nicht stimmt, langweilig ist oder man als Spielerin nicht glänzt. Das ist wichtig, dass sich die Regie so für die Sache und Spieler*innen hergibt. Nicht nur wir müssen investieren.“
„Ich ärgere Herrn Castorf gerne damit, dass ich sage Jetzt müssen wir aber wirklich noch über die Figur sprechen.“
Franz Pätzold
Kein Richtig und Falsch
Das wird mit Sicherheit auch bei „Heldenplatz“ der Fall sein, das sich – wie bei Castorf üblich – aus mehreren Textquellen zusammensetzen wird. „Wenn man erzählt, dass man dieses Stück macht, kommt sofort die Frage, wie wir dieses Skandalstück denn aufladen werden. Viel spannender als den Skandal oder die Frage danach, wie sehr da jetzt über Österreich geschimpft wird, finde ich jedoch die Geschichte dieser aus dem Exil zurückgekehrten jüdischen Familie“, sagt Stockinger, die zum Zeitpunkt unseres Gesprächs – das an jenem Tisch stattfindet, an dem unmittelbar danach gelesen und geprobt wird – erst zwei Probentage hinter sich hat.
Viele in dem Stück enthaltene Themen, sind sich die beiden einig, hätten ihr provokatives Potenzial zwar ein wenig verloren, andere Ebenen dafür an Relevanz gewonnen. So sei der zunehmende Antisemitismus in Österreich ein Faktor, der viele Sätze in Thomas Bernhards „Heldenplatz“ wieder hochaktuell erscheinen lasse. „Ein weiteres für die Inszenierung wichtiges Thema sind die Toten, die wiederkehren und uns heimsuchen“, so Stockinger.
Ein kurzer Sprung zurück – nicht ins Uraufführungsjahr 1988, sondern zum 5. Jänner 2024, also in die allerjüngste Vergangenheit: In einer E-Mail an die Presseabteilung des Burgtheaters fragen wir, wer denn nun wen spiele, und wissen beim Tippen bereits, dass die Frage wohl unbeantwortet bleibt.
Was auf gar keinen Fall an der Arbeit der Presseabteilung liegt, sondern schlichtweg am Castorf-Theater. „Für mich gibt es in diesem Stück zum Beispiel gar keine Rolle“, sagt Franz Pätzold lachend und macht die Dinge damit noch ein bisschen kryptischer, als sie ohnehin schon sind.
„Es ist eher ein Hin-und-her-Springen zwischen den Figuren – eine kurze Besitznahme eines Textes, um ihn dann auch wieder loszulassen. Wichtig ist, dass die Situation konkret ist. Ich finde es sehr reizvoll, dass man immer wieder Dinge fallen lassen kann, andere dafür wieder aufhebt“, erklärt Marie-Luise Stockinger.
Die Psychologie entstehe erst durch die Energie der Spieler*innen, bringen es die beiden beinahe unisono auf den Punkt.
Er habe ein großes Problem damit, wenn er in Proben darum gebeten wird, sich anhand einer Figur die Psychologie einer Situation zu überlegen, denn in diesem Moment gebe es plötzlich ein Richtig und Falsch, so Pätzold.
„Mir geht es immer darum, ich zu bleiben auf der Bühne, auch wenn ich vielleicht Sachen sage oder Meinungen vertrete, die ich privat nicht sagen oder vertreten würde. Ich ärgere Herrn Castorf gerne damit, dass ich sage: Jetzt müssen wir aber wirklich noch über die Figur sprechen.“ Eine gewisse Angstfreiheit ist auch in diesem Fall bestimmt von Vorteil.