„Ein Leben im Konjunktiv“ bescheinigt Regisseurin Anna Bergmann einer der zentralen Figuren aus Ödön von Horváths selten gespieltem Stück „Die Unbekannte aus der Seine“. Albert ist demnach ein typischer Horváth-Charakter – zwischen dem Wunsch nach Macht und der eigenen, lähmenden Ohnmacht gefangen. Rastlos und unbeweglich zugleich. Auf wen das so gar nicht zuzutreffen scheint, ist die Regisseurin selbst, die nicht nur auf den ersten, sondern auch auf den zweiten und dritten Blick so wirkt, als wüsste sie ganz genau, was sie will und was sie ganz und gar nicht will. Hätte, hätte, Fahrradkette? Im Gegenteil – lieber einmal ordentlich in die Pedale treten und möglichen Gegenwind als zusätzlichen Motivationsschub betrachten. Zu den Dingen, die Anna Bergmann nicht will, gehört im Übrigen Hintergrundgemurmel beim Interview. Freundlich, aber bestimmt weist sie darauf hin.

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Die Zeit steht still

Bei unserem Gespräch, das im Volx, einer der Probebühnen des Volkstheaters, stattfindet, sitzt sie auf einem roten Hüpfball und wippt auf und ab. Dabei feuert sie einen druckreifen Satz nach dem nächsten ab – schnell, schnörkellos und stets am Punkt. Auf Zierzeilen hat sie ebenso wenig Lust wie auf „coulda, woulda, shoulda“. Die Zeit ist jetzt. Um ebenso kluges wie unterhaltsames Theater zu machen, aber auch, um sich – wie Anna Bergmann das schon seit vielen Jahren tut – immer wieder klar dafür auszusprechen, dass mindestens genauso viele Frauen wie Männer auf Regiepositionen und Leitungsstellen engagiert werden sollten. Doch dazu gleich mehr.


Zunächst einige Worte zu Horváths Stück, das Anna Bergmann bei ihrem Volkstheater-Debüt inszeniert: Inspiriert von der Totenmaske einer unbekannten Frau, schrieb er ein Stück, in dem ebenjene Unbekannte das Leben der anderen Charaktere ordentlich durcheinanderwirbelt. „Die Figuren, die uns in diesem Stück begegnen, sind in ihren Unsicherheiten, Sehnsüchten und Zukunftsängsten gefangen. Ich finde, dass das etwas ist, das unserem Zeitgeist total entspricht. Man vergleicht sich, schaut sich Bilder an und wünscht sich an andere Orte, anstatt im Moment zu sein“, erklärt die Regisseurin.

Die Unbekannte, „eine Art Engel oder Geistwesen“, ist hingegen eine Figur, die tatsächlich nur im Moment existiert, fügt sie hinzu. „Wenn sie auftritt, steht die Zeit still. Aber auch das Ablaufen der Zeit – das Ticken der Uhren – ist ein großes Thema in der Inszenierung, das wir mit der Besetzung von Sona MacDonald als Uhrmacherin explizit vergrößern. Während der Uhrmacher im Original gar nicht wirklich auftritt, ist unsere Uhrmacherin jene Figur, die die Zeit in der Hand hält und die – nachdem sie erschlagen wurde – auch als Wiedergängerin immer wieder auftaucht.“ Sona MacDonald, die Anna Bergmann als Gast gewinnen konnte und mit der sie am Theater in der Josefstadt schon mehrfach zusammengearbeitet hat, wird darüber hinaus Arien aus der Oper „Rusalka“ singen.

Anna Bergmann
Inszeniert Ödön von Horváths selten gespieltes Stück „Die Unbekannte aus der Seine“: Anna Bergmann.

Foto: Tim Christokat

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Im Kontext des Stücks ist der Satz „Die Zeit ist jetzt“ also wieder etwas anders zu betrachten. Anna Bergmann erklärt: „Wir arbeiten mit parallelen Zeitebenen und Paralleluniversen und beschäftigen uns mit Fragen wie: In welcher Zeitebene leben wir, wie kann man sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit beeinflussen, und was passiert dadurch? Und wie gelingt es diesem Geistwesen, Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen und womöglich die Zeit zurückzudrehen? Oder eben auch nicht.“

Ausschließlich Regisseurinnen

Wenn es nicht gerade um dieses Stück und die titelgebende Unbekannte, sondern um Themen wie Gleichberechtigung und Fair Pay im Theaterbetrieb geht, hält Anna Bergmann vom Stillstand der Zeit nicht allzu viel. Auch nicht davon, darauf zu hoffen, dass es möglicherweise Paralleluniversen gibt, in denen ebenso viele Frauen wie Männer auf den großen Bühnen inszenieren. Als sie 2018/19 das Amt der Schauspieldirektorin in Karlsruhe antrat, engagierte sie deshalb ausschließlich Frauen auf Regiepositionen und sorgte damit für ziemlichen Wirbel in der Theaterlandschaft. Zu vielen positiven Rückmeldungen gesellten sich auch Begriffe wie „Männerhasserin“. „Ich habe das gemacht, um ein Zeichen zu setzen. Und mir war immer klar,

dass ich, wenn ich Schauspieldirektorin werde, Dinge verändern möchte. Also habe ich beschlossen, dass bei mir nur Frauen inszenieren. Das war natürlich auch ein Resultat meiner eigenen Erfahrungen als Regisseurin in einem patriarchalen, hierarchisch strukturierten Betrieb“, hält Bergmann fest und setzt nach:„Es hat sich zwar etwas verändert, aber ich finde, dass es nach wie vor zu wenige Frauen sind. Wenn man sich ansieht, dass in den großen Wiener Theater- und Opernhäusern neun von zehn Leitungspositionen von Männern ausgefüllt werden, gibt es definitiv noch Luft nach oben.“

Das Theater muss der freieste Ort der Welt und die Bühne ein Safe Space sein.

Anna Bergmann

Das bedeute jedoch nicht, dass ihre Arbeitsweise eine basisdemokratische sei, hält Anna Bergmann fest. „Ich mag es, wenn sich alle einbringen, aber ich glaube auch total daran, dass es am Ende jemanden geben muss, der Entscheidungen trifft. Und die Spieler und Spielerinnen lieben es meiner Erfahrung nach überhaupt nicht, wenn sie keine klaren Ansagen bekommen. Das gibt immer Unruhe, Missverständnisse und Konflikte. Ich bin davon überzeugt, dass es eine Sehnsucht nach einer Person gibt, die das Schiff lenkt", findet die in Stendal, Sachsen-Anhalt, geborene und aufgewachsene Regisseurin klare Worte.

Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Außerdem lebt das Theater von Konflikten, Widerständen und Widersprüchen. Es muss der freieste Ort der Welt und die Bühne ein Safe Space sein, auf der, in Absprache miteinander, alles möglich sein sollte. Sonst schaffen wir uns selbst ab“, so Bergmann, die, wie sie selbst sagt, mit Theaterjugendclub, Studium an der Ernst Busch (Hochschule für Schau- spielkunst) und Regieassistenzen einen „ziemlich straighten Lebenslauf“ hingelegt hat. In die Wiege gelegt wurde ihr dieser Weg jedoch nicht. „Meine Großeltern hatten eine Landwirtschaft, und meine Mutter, ebenfalls im landwirtschaftlichen Bereich tätig, hat mir damals ein Ultimatum gesetzt: Wenn ich bis 21 nicht an einer staatlichen Schule genommen werde, muss ich etwas ‚Ordentliches‘ studieren.“

Anna Bergmann
Unverblümt mit Blumenstrauß. Anna Bergmanns unverblümte Art, über ihren Beruf zu sprechen, hindert sie natürlich nicht daran, sich mit dem Requisitenstrauß aus dem Stück fotografieren zu lassen.

Foto: Tim Christokat

Vom Regiestudium kennt sie auch Volkstheater-Ensemblemitglied Christoph Schüchner, der in der „Unbekannten aus der Seine“ als Ernst auf der Bühne steht. „Er hat in meiner Diplominszenierung gespielt“, sagt sie lachend. Lucas Gregorowicz, der die Rolle des Albert übernimmt und unter Matthias Hartmann zum Ensemble des Burgtheaters gehörte, wird nach acht Jahren wieder auf einer Theaterbühne zu sehen sein.

Ein atmendes Haus

Bevor sich unsere Wege wieder trennen, wollen wir noch von Anna Bergmann wissen, was wir uns in Sachen Bühnenbild erwarten dürfen. Sie antwortet: „Es gibt ein Haus, das lebt und Geschichte atmet – das irgendwann nach oben fährt, weint und die Wohnung von Albert preisgibt. Es hat, wenn man so will, ein Eigenleben entwickelt. Ich finde es schön, Räume zu kreieren, die nicht nur Architektur sind, sondern auch mitspielen und eigene Geschichten erzählen.“

Und weil die Zeit an diesem Donnerstagnachmittag nicht stillsteht, sondern die Uhr unablässig tickt, muss Anna Bergmann nach unserem Termin auch gleich wieder weiter. Zur visuellen und musikalischen Einstimmung wollen wir Ihnen jedoch einen Satz des Dramaturgen Thomaspeter Goergen nicht vorenthalten: „Wir erzählen eine turbulente Mystery Story zwischen David Lynch und Lady Gaga, zwischen Orwell und Huxley, zwischen Borges und Barbie.“ Wir finden: Die Zeit dafür ist definitiv jetzt.

Zur Person: Anna Bergmann

studierte Theaterwissenschaft, Philosophie, Anglistik und Regie in Berlin. Seit 2003 arbeitet sie als Regisseurin u. a. am Schauspielhaus Bo- chum, Thalia Theater Hamburg, Maxim Gorki Theater Berlin und am Deutschen Theater Berlin. Seit 2014 inszeniert sie zudem regelmäßig in Schweden. In der Spielzeit 2018/19 wurde sie Schauspieldirektorin in Karlsruhe, und 2021 wurde sie zum Berliner Theater- treffen eingeladen.

Zu den Spielterminen von Die Unbekannte aus der Seine im Volkstheater!