Gert Voss begann manchmal bitterlich in seiner Garderobe zu weinen, wenn die Hürden hoch lagen: Hürden in Gestalt des Othello, des Shylock oder von Richard III.„Wenn mein Vater solche Riesenrollen zu bewältigen hatte“, erinnert sich seine Tochter Grischka Voss, selbst Schauspielerin, „brauchte er diese emotionale Entladung, um die Anspannung loszuwerden. Er war ein extremer Schauspieler, bei ihm ging es bei jeder Premiere um Leben und Tod.“

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Lampenfieber und Kulinarik

Sie selbst kriecht, ähnlich dem Vater, am Premierentag „auf allen vieren“: „Im Gegensatz zu ihm verschlinge ich vor der Vorstellung Berge von Fleisch, mein Vater hingegen konnte nichts essen, begann aber dafür nachts oft noch, mehrere Gänge zu kochen.“

Es gibt kaum einen Schauspieler, der es nicht kennt, jenes Gefühl, das zur Hölle werden kann, das aber auch die Basis für kreative Höhenflüge ist: Lampenfieber, so der poetische deutsche Ausdruck, im Gegensatz zum bedrohlichen englischen stage fright, ist jene Form der Anspannung vor dem Auftritt, die für die Konzentration so wichtig ist.

Durchlässiges Nervenkostüm

„Wenn i ka Angst hab, geh i wieder ham“, erklärte mir der Volksschauspieler und Wirt Hanno Pöschl bei einem seiner Burgtheaterauftritte. Die „berufs­mäßigen Gefühlsmenschen“, so die Definition von Max Reinhardt in seinem berühmten Vortrag Rede über den Schauspieler, sind oft mit einem durchlässigen Nervenkostüm ausgestattet.

Die Angst ist ein Spaltpilz, der ganze Karrieren zerstören kann."

Elisabeth Orth
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Was natürlich hilfreich, wenn nicht sogar Voraussetzung ist, sich in die emotionale Befindlichkeit der Bühnenfigur hineindenken und -spüren zu können. Aber diese Durchlässigkeit macht auch verletzlich. „Die Angst ist ein Spaltpilz, der ganze Karrieren zerstören kann“, legt die Doyenne des Burgtheaters, Elisabeth Orth, offen. In einem Zustand der Verwundbarkeit vertraut sie sich gerne „den Garderoberinnen und Maskenbildnerinnen“ an, „die unsere Befindlichkeiten regelrecht erspüren“.

Sie selbst hat die Angst an der Mutter, der Legende Paula Wessely, oft miterlebt. Und auch gelernt, was es zu vermeiden gilt. „Das waren ihre eisernen Regeln: keine Stimu­lanzien, keine Mutachterln vor der Premiere, keine Pillen auf einem Teller, die das Lampenfieber bekämpfen sollen.“

Die Garderobe als Schutzraum

„Der Kopf muss frei sein vom alltäglichen Zeug“, so Stefanie Reinsperger. Zurzeit stemmt sie am Berliner Ensemble in Brechts „Baal“ und dem „Kaukasischen Kreidekreis“ Riesen­rollen stemmt. „Ich gehe immer Stunden vorher ins Theater, um den Text noch einmal durchzugehen und in einen Meditationszustand zu kommen.“

Die Garderobe wird in solchen Momenten zu einem Schutzraum. Im Burgtheater gibt es eine Art „Chef-Garderobe“ für den jeweiligen Protagonisten, so die erste Direktorin des Hauses, Karin Bergmann: „Die wurden dann wie Altarräume mit Fotos und Glücksbringern bestückt. Künstler wie Voss, Ignaz Kirchner oder Kirsten Dene legten ihre Utensilien in Reih und Glied, nahezu wie Operationsbesteck, auf.“

Vorbereiten wie ein Zirkusartist

Am Ende des Tages „musst du dich vorbereiten wie ein Zirkusartist, der aufs Seil muss, und immer ganz bei dir sein“, erzählte der Doyen des Burgtheaters, Michael Heltau, von seinen Vorbereitungsrituale. Auf Bitte des Fotografen legte er sich der Anschaulichkeit halber noch einmal aufs Sofa einer Garderobe. „Denn eines ist sicher: Da oben ist immer Zahltag.“ Und wenn mit magischer Währung bezahlt wird, dann erlebte man als Schauspieler jenen Zustand, den Heltau mit einem Reinhardt-Zitat so beschreibt. „Ich liebe die Wirklichkeit und möchte in ihr bleiben. Nur eine Handbreit möchte ich über dem Boden schweben.“

Doch der Weg in den Schwebezustand ist alles andere als ein Waldspaziergang.

Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesell­schafts­ressort beim Nachrichtenmagazin „profil“. Sie ist die Frau ­hinter dem Kolumnen-­Pseudo­nym Polly Adler im ­„Kurier“. Hager ­gestaltet das Theaterfestival Schwimmender Salon im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).

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