BÜHNE: Was hat Sie an der Auseinandersetzung mit Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi" besonders gereizt? 

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Robert Icke: Ich wusste bereits, dass diese Inszenierung meine letzte für das Almeida Theatre in London sein würde, wo ich sechs Jahre lang gearbeitet habe. Deshalb habe ich begonnen über Stücke nachzudenken, in denen es darum geht, einen Ort zu verlassen – „Der Sturm“ oder „Der Kirschgarten“ zum Beispiel. Aber irgendwie haben sich diese Stücke für mich zu nostalgisch und zu sehr nach einer sicheren Wahl angefühlt. Also habe ich mich gefragt, was bei mir eher das Gefühl von etwas Verbotenem auslöst. Welche Dinge ich nicht anspreche, weil ich Angst davor habe.

Bald darauf kam ich auf die Idee, ein Stück zum Thema Identität zu machen, aber in einem größeren, philosophischeren Rahmen. Es sollte mehr sein als nur eine Betrachtung dessen, was man heute oft als „Identitätspolitik" bezeichnet. Ich entdeckte sofort mehr als eine „richtige" Antwort auf die meisten meiner Fragen, und das hat mich begeistert. Schnitzlers Stück eröffnete mir die Möglichkeit eines faszinierenden Petrischalen-Settings – die Welt der Medizin–, gepaart mit einem brillanten erregenden Moment. Auch wenn meine Protagonistin ganz anders ist als sein Protagonist. Das war mein anderer großer Wunsch: ein Stück für eine weibliche Protagonistin zu schreiben. Ich begann zu begreifen, dass dieses Stück und das Schnitzler-/Identitätsprojekt ein und dasselbe sein könnten.

Die Welt am Seziertisch

Auf den ersten Blick scheint es so, als wären Sophie von Kessel und Zeynep Buyraç im Stück „Die Ärztin“ Gegenspielerinnen. Doch schwarz-weiß ist in Robert Ickes Schnitzler-Überschreibung allenfalls das Bühnenbild. Weiterlesen...

Die Musik der Zeilen

Das Stück wurde 2019 in London uraufgeführt. Wie wirkt es sich auf das Stück aus, dass es nun auf Deutsch inszeniert wird? Inwieweit beeinflusst die Sprache den Rhythmus einer Inszenierung?  

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Wenn man ein Stück in eine andere Sprache übersetzt, verändert das sehr viel. Die Grammatik beeinflusst die Geschwindigkeit und Spontaneität der Gedanken. Veränderungen im Denken haben Einfluss auf die Figuren. Dadurch verändert sich die Dynamik der Figuren, und es kommen andere Elemente des Stücks zum Vorschein – vor allem dann, wenn man es in einem anderen Land aufführt, das ein eigenes Verhältnis zum Thema Identität hat. Außerdem hat ein Stück, das sich mit der Stellung der Medizin in der Gesellschaft und auf mehreren Ebenen mit Gleichbehandlung und Gleichberechtigung befasst, nach Black Lives Matter und einer globalen Pandemie eine ganz andere Resonanz.

In Bezug auf den Rhythmus, der für mich zu den allerwichtigsten Dingen gehört, die wir herzustellen versuchen, formuliere ich ständig um, entferne Silben, beschleunige Sätze und verlangsame sie. Und zwar so lange, bis die Musik einer Zeile stimmt. In einer fremden Sprache ist das seltsamerweise manchmal sogar einfacher: Die Erfahrung des Klangs steht für sich alleine und wird nicht von Grübeleien über die Bedeutung eines Satzes beeinflusst.

Foto: Marcella Ruiz-Cruz

Wie würden Sie die Hauptfigur des Stücks, Dr. Ruth Wolff, beschreiben?  

Ich würde sagen, dass all ihre größten Stärken auch ihre größten Schwächen sind.

Begeisterung und Engagement

Was ist für Sie in der Probenarbeit wichtig – in Bezug auf die Atmosphäre und die Art und Weise, wie die Leute zusammenarbeiten?

Das ist alles andere als eine einfache Frage. Die Menschen sind das Rohmaterial eines jeden Probenprozesses, und es ist mir wichtig, dass sich alle Beteiligten für das Projekt begeistern und engagieren. Die gemeinsame Suche sollte tief und befriedigend sein. Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden, bei dem sich der Proberaum wie ein tiefgründiger und wichtiger Ort anfühlt, ohne dass man dabei ein Gefühl der Schwere in sich spürt. (Natürlich) hat COVID auch in dieser Hinsicht für zusätzliche Ungewissheit und Unruhe gesorgt, was auch für mich nicht angenehm war.

Irgendwo im Gebäude gingen zwar Dramaturgen ihrer Arbeit nach, aber an diesen Abenden gab es keine Stücke, keine Schauspieler und kein Publikum nur mich und die Geister."

Robert Icke

Hatten Sie Zeit, ein bisschen durch Wien zu spazieren? Vielleicht auch ein Theaterstück zu sehen? 

Ich habe viele Spaziergänge gemacht und dabei die Stadt bewundert. Weil ich während der meisten unserer Proben zu meiner jungen Familie nach London gependelt bin, hatte ich geplant, mir im Laufe unserer letzten Probenwochen einige Stücke anzusehen. Aufgrund des neuerlichen Lockdowns ging dieser Plan jedoch leider nicht auf. Im Gegenzug hatte ich allerdings das seltene Privileg, am frühen Abend, wenn unsere Bühnenproben beendet waren, im leeren Zuschauerraum des Burgtheaters zu sitzen. Dieser Zuschauerraum ist ein außergewöhnlicher Ort, einer der schönsten der Welt – und einer der effektivsten, in denen ich je gearbeitet habe. Ich habe diese ruhigen Stunden sehr genossen. Irgendwo im Gebäude gingen zwar Dramaturgen ihrer Arbeit nach, aber an diesen Abenden gab es keine Stücke, keine Schauspieler und kein Publikum: nur mich und die Geister. 

Zur Person: Robert Icke

Robert Icke, geboren im englischen Stockton-on-Tees, ist Regisseur, Autor und Theaterleiter. Von 2003 bis 2007 war er Gründer und künstlerischer Leiter der Arden Theatre Company sowie von 2010 bis 2013 Associate Director der Headlong Theatre Company. Dort adaptierte und inszenierte er u.a. „Romeo und Julia" von William Shakespeare sowie gemeinsam mit Duncan Macmillan „1984" von George Orwell, das auch am Broadway zu sehen war. 2013 wechselte er als Associate Director ans Londoner Almeida Theatre. „Die Ärztin" („The Doctor") war seine letzte Arbeit in dieser Funktion und ist seine erste Inszenierung am Burgtheater.

Weitere Infos auf der Website des Burgtheaters