Stephan Kimmig: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Der vielfach ausgezeichnete Regisseur Stephan Kimmig stellt gerne Fragen. Antworten liefern? Langweilig. Sämtliche Versuche, sein Theater mit irgendwelchen Etiketten zu bekleben, wehrt er seit Jahren erfolgreich ab. Im Volkstheater inszeniert er „Liebes Arschloch“.
Als der Theater- und Opernregisseur Stephan Kimmig im Jahr 2009 von der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ darum gebeten wurde, eine Antwort auf die Frage „Woran arbeiten Sie gerade?“ zu formulieren, kamen – wohl entgegen allen Erwartungen – weder Shakespeare, Tschechow oder Horváth noch Begriffe wie „Textfassung“ oder „Setzung“ in seinem Text vor.
Stattdessen war unter anderem Folgendes zu lesen: „Ich arbeite an diesen Fragen: Wie kriegt man die Empathie wieder in die Köpfe? Wie könnte der Bohrer aussehen, der den Zugang zu unseren Herzen und Hirnen öffnet, sodass wir uns wieder um etwas anderes kümmern können als um uns selbst?“
Obwohl er es heute vielleicht nicht mehr auf haargenau dieselbe Weise ausdrücken würde, sei das immer noch so, bestätigt der Regisseur, als wir ihn mit diesem aus den Untiefen des Internets geborgenen Zitat konfrontieren. Die Auseinandersetzung mit Vielfalt, Widersprüchen, Offenheit und Empathie treibe ihn in seinen Regiearbeiten nämlich nach wie vor ständig um. Genauso wie der Feminismus, den er zu seinen wichtigsten Triebfedern überhaupt zählt.
Klebstoff Empathie
Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs steckt Stephan Kimmig mitten in den Endproben zu seiner Bühnenadaption des Romans „Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes – ein moderner Briefroman, in dem die französische Autorin und Feministin genau jene Themen literarisch beackert, die Kimmig in seiner Theaterarbeit immer wieder beschäftigen.
Anhand einer Dreierkonstellation, in der völlig unterschiedliche Blickwinkel auf gesellschaftliche Vorgänge aufeinanderprallen, erzählt Despentes, wie durch Zuhören und Empathie Meinungsgräben überwunden werden können. Dabei bleibt sie jedoch stets streitbar und ohne jegliche Scheu davor, sich auf sehr direkte Weise mit Themen wie #MeToo, Drogenkonsum und Machtmissbrauch zu befassen.
Despentes, die aufgrund ihrer von vielen Menschen als radikal empfundenen feministischen Haltung bislang gerne mit dem Label „Skandalautorin“ ausgestattet wurde, sei bei diesem Text sehr vom Konzept der Sanftheit einge- nommen gewesen, wie sie in Interviews mehrfach betonte.
Dieses Beharren auf Offenheit und Kommunikation hätte ihn sehr angezogen, sagt Stephan Kimmig. „Wenn es nur noch um Etiketten geht, die man auf Menschen draufklebt, damit man in seinem eigenen Schwarz-Weiß-Bild nicht gestört wird und schön in seiner eigenen Blase weiterleben kann, führt das im Endeffekt zum großen Canceln und – wie wir bei der Europawahl gesehen haben – zur Stärkung der Rechten und zur Schwächung der Demokratie“, findet der Regisseur klare Worte.
Ich habe dieses kapitalistische Streben danach, alles in Schubladen zu stecken, noch nie gemocht.
Stephan Kimmig, Regisseur
Graubereiche und Widersprüche auszuhalten sei in einem demokratischen Miteinander unabdingbar, ist Kimmig überzeugt. Er setzt nach: „Demokratie ist anstrengend und ganz schön viel Arbeit. Ich glaube, dass es eine Sehnsucht danach gibt, dass uns diese Arbeit und die damit verbundenen Entscheidungen abgenommen werden und jemand anderer all diese Dinge regelt. An diesem Punkt wird es gefährlich für die Demokratie, deren wichtigster Klebstoff die Empathie ist.“
„Und Humor!“, fügt Stephan Kimmig nach einer kurzen Pause hinzu und lacht – als wolle er das eben Gesagte auch gleich mit Leben anfüllen. Lebendigkeit ist überhaupt ein wichtiges Stichwort, wenn es um seine Theaterarbeit geht. Im Falle von „Liebes Arschloch“ gesellt sich, wenn alles so gelingt, wie er es sich vorstellt, noch eine Portion Lässigkeit, die keinesfalls mit Gelassenheit zu verwechseln ist, dazu. „Der Abend darf auf keinen Fall moralisch oder ideologisch werden“, hält der Regisseur daran anknüpfend fest.
Keine Lust auf Labels
Die Frage danach, wie man die Empathie wieder in die Köpfe kriegt, haben wir – mit der Hilfe von Virginie Despentes und ihrem famosen Roman – mittlerweile gut eingekreist, hin und wieder vielleicht sogar in ihr Herz gestochen. Bleibt jedoch noch eine Sache, die unbedingt zu ergründen ist: Wie zur Hölle kriegt man eigentlich einen Roman, in dem die Figuren einander nie direkt begegnen, auf eine Theaterbühne? Stephan Kimmig lacht und antwortet auf gewohnt unprätentiöse Weise: „Würde man die Spieler*innen diese ganzen Suaden einfach ins Publikum sprechen lassen, wäre das fad. Wir haben uns also angesehen, wie wir es schaffen könnten, dass die widersprüchlichen Gedanken der drei Figuren in ihren Gesichtern erkennbar werden – und zwar nicht nur für die Zuschauer*innen, die in den ersten Reihen sitzen.
Damit uns das gelingt, arbeiten wir mit einer Videokamera. Außerdem probieren wir, über verschiedene körperliche Zugänge auch die Körper zum Sprechen zu bringen, sodass die Annäherung der Figuren über die Gräben hinweg auch auf sinnlicher Ebene für die Zuschauer*innen erfahrbar wird. Würde immer nur eine Person sprechen, wäre das vermutlich zehn Minuten lang auszuhalten – und dann: schnarch.“ Schnell ist klar: Langeweile ist Stephan Kimmigs Sache nicht. Und würde der bereits erwähnten Kombination aus Lässigkeit und Lebendigkeit auch diametral gegenüberstehen.
Womit der Regisseur – in dessen Stimme eine Variante jener entschlossenen Sanftheit mitschwingt, mit der auch Virginie Despentes ihren Roman ausgestattet hat – ebenfalls überhaupt nichts anfangen kann, sind Labels aller Arten und Ausprägungen. „Ich habe dieses kapitalistische Streben danach, alles in Schubladen zu stecken, noch nie gemocht. Als ich vor 20 Jahren ‚Nora‘ gemacht habe, kamen Leute zu mir, die sagten: Das war fantastisch, du musst das ab jetzt immer so machen. Ich dachte mir: Ich werde das nie wieder so machen.“ Weil er so viele unterschiedliche Dinge ausprobiert hat, habe er nun viel mehr Möglichkeiten und ein deutlich größeres Vokabular zur Verfügung, sagt Kimmig mit ruhiger Stimme. „Seit etwa drei Jahren macht mir mein Beruf weitaus am meisten Spaß, weil ich – gemeinsam mit meinen jeweiligen Teams – das Menü immer wieder neu und anders kochen kann.“
Außerdem widerspreche das Verharren in der eigenen Regieblase auch all jenen Dingen, für die Despentes in „Liebes Arschloch“ kämpft – nämlich dafür,„dass wir alle viele sind und in uns auch widersprüchlich sein dürfen.“ Für den Regisseur gilt daher: lieber weiterhin an Fragen arbeiten statt Antworten liefern. Alles andere wäre aber auch undemokratisch, langweilig und verschlossen. Und all das ist Stephan Kimmig mit Sicherheit nicht.