Selten sind sie geworden, die Menschen, die zuhören, die nachdenken, bevor sie reden, und die einen grundsätzlichen Respekt vor dem reinen Ritual des Gesprächs haben: Reden. Zuhören. Leben lassen. Calle Fuhr ist so einer. Der 26-Jährige hat viel nachgedacht, bevor er den Job des Künstlerischen Produktionsleiters Volkstheater in den Bezirken (so die Jobbeschreibung) übernommen hat. Zuerst einmal über den grundsätzlichen Sinn seiner Arbeit, den er für sich verloren geglaubt hatte.

Anzeige
Anzeige

Vom Theater zur Gastro und wieder zurück

„Ich habe mit Theater aufgehört und hatte keine Lust mehr, ich wollte eine feste Bleibe ­haben, sozial leben. Dann bin ich in die ­Gastro in Düsseldorf gegangen, habe als Koch im Lokal eines Freundes gearbeitet. Ich habe gesagt: Ich will Theater wieder zu meinem Hobby ­machen. Es war mir einfach zu krass, mich dem freien Markt auszuliefern, immer in einer ­anderen Stadt zu sein. Ich bin nicht ans Theater gegangen, um reich zu werden, sondern weil ich wusste: Das ist es. Dann hat Kay Voges angerufen und gefragt, ob ich mit ihm zu­sammenarbeiten wolle: ‚Du kennst Wien, ich vertraue dir, ich glaube, du könntest hier einen ­guten Platz finden.‘“

Calle Fuhr hat in der Ära von Anna Badora einige Regiejuwele abgeliefert: „Die Leiden des jungen Werther“, „Philoktet“ (mit einer umwerfenden Stefanie ­Reinsperger), ­„Kabale und Liebe“ fürs Bronski & Grünberg. Dann geht er nach Berlin. Bei „Die Parallelwelt“, einem Stück, das gleichzeitig in Dortmund und Berlin spielt, arbeitet er erstmals mit Kay Voges zusammen.

Wien ist eine Theaterstadt, in der man nicht nur mit Kunstkommerz punktet."

Regisseur Calle Fuhr

„Das Format des Volkstheaters in den ­Bezirken ist einzigartig, und dafür braucht es auch einen einzigartigen Inhalt. Die Frage lautet: Ist es sinnvoll, dort Faust zu spielen? Ich habe mir die Wiener Theaterszene an­geschaut und mich gefragt: Was vermisse ich hier? Was fehlt, ist Recherche-Theater. Theater, das nicht in der Fiktion die großen Erzählungen sucht, sondern in der Rea­lität. Anhand von realen Geschichten werden wir künstlerisch-poetische Zugänge suchen und einen Fokus legen auf Geschichten, die uns unter­repräsentiert vorkommen. Wien ist eine Theaterstadt, in der man nicht nur mit Kunstkommerz punktet. Man muss dem Publikum einfach nur ­genug Anknüpfungspunkte geben, damit es sich mitgenommen fühlt. Es wird bereits ­genug polarisiert. Ich suche nach Geschichten, wo wir als Zivil­gesellschaft – egal, woher wir politisch kommen – 90 Minuten ­sagen: Wir haben etwas gemeinsam, lasst uns danach ­suchen. Das ist mein Glaube, wofür ­Theater da sein kann.“ 

Calle Fuhr sucht den Dialog mit der Stadt
Calle Fuhr ist leidenschaftlicher Theatermacher.

Foto: Anna Breit

Anzeige
Anzeige

Die richtigen Fragen in der Jetztzeit

Also keine überschriebenen Klassiker mehr?

Gerade damit hat er in Wien Aufsehen erregt, und jetzt stoßt er diese – relativ –
sichere Bank ab? 

Calle Fuhr antwortet mit einer Gegenfrage: „Warum sollen Goethe oder Schiller ­etwas über die heutige Zeit zu erzählen haben? Ich kann ja auch nichts über die Zeit in 200 Jahren sagen. Ich bin froh, wenn ich die richtigen Fragen in der Jetztzeit stellen kann. Bei einer Klassikerbearbeitung kannst du ver­suchen, das Stück neu zu knacken, aber du hast eine klare Decke. Auch wenn du die eine oder andere Szene dazudichten kannst, bleibt es ein begrenzter Raum. Das hat mir nicht mehr gereicht, und daher habe ich begonnen zu schreiben. Mir macht es einfach mehr Spaß, zu sagen: Hier schwirrt ein Thema herum, und daraus formen wir etwas.“

Gerti Drassl tourt mit einem Fuhr-Monolog durch die Wiener Bezirke. Calle Fuhr hat seinen Monolog für Gerti Drassl geschrieben. Der Inhalt: eine Frau und ihre Auseinandersetzung mit Erinnerung und Heroisierung.

Foto: Mauritius Images

Gerti Drassl tourt mit Volkstheater in den Bezirken

Es ist ein abendfüllender Monolog geworden – und zwar für eine der berührendsten und wahrhaftigsten Schauspielerinnen des Landes: Gerti Drassl.

Über der FFP2-Maske beginnen die Augen von Calle Fuhr zu leuchten. „Es ist einfach saucool“, sagt er und wiederholt es noch einige Male. Es ist, als könne er sein Glück noch immer nicht fassen, dass die große Volksschauspielerin mit dem Volkstheater in den Bezirken Wiens touren wird. Noch dazu mit einem Thema, das seit Jahren – verstärkt durch die #MeToo-Bewegung – permanent aktuell ist: Wie geht man als Fan mit jenen Persönlichkeiten um, die durch herausragende Leistungen zuerst zu Legenden wurden und dann durch das Aufdecken der dunklen Seiten ihrer Persönlichkeit zu Fall kamen? 

Es sind große Fragen, an die sich Calle Fuhr heranwagt: Wozu brauchen wir überhaupt Helden? Brauchen wir sie, um in uns eine Lücke zu füllen, um mehr zu fühlen? Wer verdient es, dass man ihm oder ihr ein Denkmal errichtet – ist es in Stein ­gehauener Respekt oder nur ein weiteres dekoratives Taubenklo? Und wie geht Gedächtnis überhaupt?

Nicht auf der Suche nach dem Skandal

Alle diese Fragen wirft Calle Fuhr während des BÜHNE-Interviews in den Raum. Er will, dass man über sie nachdenkt – und erst dann über den prominenten Namen, die österreichische Nationalikone, um die herum er seinen Monolog geschrieben hat. „Wir sind nicht auf der Suche nach dem Skandal“, sagt er auch noch, bevor er den Namen nennt, um den es geht: Toni ­Sailer. Österreichs Jahrhundertsportler soll im März 1974 in Zakopane eine 28-jährige Polin verletzt haben. Ein Akt des Justiz­ministeriums zeigt, wie die Regierung Kreisky intervenierte, um den Volkshelden vor den Folgen einer im Akt beschriebenen Gewalttat zu bewahren.

Die Polizei in Zako­pane hatte den 38-jährigen Sailer am Morgen des 5. März festgenommen. Der Vorwurf: „Notzucht“. Der Akt geht in Öster­reich „ver­loren“. Die Geschichte kommt erst 2018 an die Öffentlichkeit. Ein Shitstorm, angeführt vom damaligen Sport­minister Strache, ergießt sich über die Aufdecker. Das will sich Fuhr ersparen. Der Sailer-Akt dient ihm nur als Rahmen. Man hofft, dass Fuhrs Wunsch in Erfüllung geht und die dämlichen Kohorten der Social-­Media-Hater vorbeiziehen.

Ich liebe es, zu überlegen Wie kriege ich den Satz ­lustig? Das ist unser Job.

Calle Fuhr

„Es ist eine ganz persönliche Geschichte einer Frau Anfang vierzig, die Theresa heißt. Ihr Bruder war der größte Toni-­Sailer-Fan und hat ihn auch in dessen Skischule getroffen. Ihr Bruder ist aber verstorben. Für Theresa ist Toni Sailer ein Denkmal für ihren Bruder geworden, und dann erfährt sie von den Vergewaltigungsvorwürfen und stellt sich der Frage: Wie möchte ich mich an meinen Bruder erinnern? Sie verhandelt das ganz persönlich mit sich selbst. Ich versuche hier nicht, mit dem Vorschlaghammer eine weitere politische Bewegung loszutreten.“

Wer Calle Fuhrs Texte und Werke kennt, der weiß, dass es kein düsterer Abend wird. Denn Fuhr schreibt, als hätten Samuel Beckett und Thomas Bernhard ein literarisches Kind gezeugt: absurd, am Punkt, schmerzhaft und voller Humor. Das Gespräch fließt, und plötzlich sagt er wieder etwas Wunderschönes, das so gut ist, dass wir es einfach zum ­Titel ­dieser BÜHNE-Story machen mussten: „Ich liebe es, zu überlegen: Wie kriege ich den Satz ­lustig? Das ist unser Job.“

Zur Person: Calle Fuhr

Geboren in Düsseldorf, lernt der 26-Jährige durch Regieassistenzen in Düsseldorf, Salzburg, Prag und Wien. Seit 2015 ­inszeniert er in Wien, Berlin, Basel und Luxemburg. Fuhr schreibt eigene Texte und unterrichtet an der Hochschule Ernst Busch in Berlin.

Zum Wiener Volkstheater

Weiterlesen

Neu am Volkstheater: Friederike Tiefenbacher und Lavinia Nowak

Dramaturg des Volkstheaters: Das Jetzt und das Irgendwann

Claudia Bossard über „In den Alpen / Après les alpes“

Schauspieler teilen Rezepte: Bühnenreife kulinarische Abenteuer