Es ist viele Jahre her, da hörte ich zum ersten Mal Mozarts 40. Symphonie, dirigiert von Karl Böhm – es war eine hoffnungslos zerkratzte Schallplatte. Schon der erste Satz erschien mir wie ein Wunder. Ich galoppierte in die Musik hinein, als säße ich auf einem Pferdchen und hätte nur halb so viel Gewicht. Nach hundertmal Abhören, Auflegen, Abhören, Auflegen war die Platte dahin, und ich kaufte mir eine neue, wieder mit Karl Böhm als Dirigent.

Anzeige
Anzeige

Ich war stolz, derselben Gattung anzugehören, der Mozart angehörte."

Michael Köhlmeier

Ich lernte das Musikstück bis in jeden Ton hinein kennen, ich konnte alle vier Sätze auswendig – aber ich begriff sie nicht. Diese Musik war das Substrat des Unbegreiflichen, dem wir in aller Kunst begegnen. Und auf einmal war ich von Stolz erfüllt, aber eben nicht von einem heiligen Stolz, der ja, allein des Wortes wegen, auf ein gött­liches Wesen hinweisen würde; nein, ich war stolz, derselben Gattung anzugehören, der Mozart angehörte: Ich war stolz, ein Mensch zu sein.

Fähnchen unserer Identität

Ich diskutiere mit einem guten Freund, er ist Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Ich sage, der Mensch muss Literatur, Kunst, Theater, Musik wollen, brauchen tut er dies alles nicht. Er sagt, nein, der Mensch braucht Kultur. 

Und er begründet es damit, dass wir in unserem Dauerkampf gegen die Natur untergehen würden, längst untergegangen wären, spätestens, nachdem uns Nietzsche den Tod Gottes gemeldet hat, wenn wir, die wir allein im Universum sind, nicht das Fähnchen unserer Identität hochgehalten hätten und immer hochhalten, und das könne einzig dadurch geschehen, dass wir stolz dar­auf sind, Menschen zu sein.

Es gebe, so fährt er fort, weiß Gott genug, was wir anrichten, auf das wir – noch einmal weiß Gott – nicht stolz sein können. Aber wenn uns ein „menschliches Wunder“ begegnet – wie eben Mozarts 40. Symphonie –, dann, so mein Freund, erkennen wir unsere Größe, unsere Einmaligkeit und unsere Freiheit. „Wieso Freiheit?“, frage ich. Er antwortet: „Weil es Freiheit bedeutet, äußerste Freiheit, wenn uns in solchen Werken der Kunst bewiesen wird, dass wir Menschen keinen Gott, keinen Kaiser, keinen Tribun brauchen, um uns selbst zu erheben.“

Anzeige
Anzeige

Ich habe nichts gegen Pathos, wenn es einem wahren Gefühl entspringt – dem Gefühl der Freude über die Großartigkeit des Menschen."

Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier: Pathos ist ein Hund

Das ist Pathos. Ich habe nichts dagegen. Aber man muss aufpassen. Pathos ist ein Hund. Pathos vereinnahmt ebenso, wie es ausschließt. Und Pathos lügt sehr oft. Oft ist Pathos ein Trick: Es transferiert ein Gefühl von seinem angestammten Adressaten auf ein anderes Feld – Beispiel: Die Liebe zum Vater wird als etwas Gutes, Edles, Schönes empfunden; hänge ich vor die Nation den Begriff Vater, mache sie also zum „Vaterland“, dann übertrage ich dieses Gefühl auf ein historisch-politisches Gebilde, das im Ganzen betrachtet nur wenig mit meinen Gefühlen zu tun hat, und es ist durchaus ratsam, sich zu fragen, welchen Zwecken diese Übertragung dient. 

Ich habe nichts gegen Pathos, wenn es einem wahren Gefühl entspringt – dem Gefühl der Freude über die Großartigkeit des Menschen. Wenn ich Musik höre, wenn ich ein Gemälde betrachte – mir fällt ein, dass ich bei meinem nächsten Wienbesuch unbedingt wieder das Kunsthistorische Museum besuchen muss, um mir die Bilder von Pieter Bruegel anzusehen! –, wenn ich einen Roman lese, der mich in die innerste Herzkammer eines Menschen führt, zum Beispiel „Kanada“ von Richard Ford, oder wenn ich ins Theater gehe, dann kann es sein, dass ich, ohne ihn zu begreifen, ahne, dass unser Leben einen Sinn hat und dass wir es sind, die den Sinn geben, und dies gerade dann, wenn wir ihn nicht begreifen.

Unsere Nachbarn hier auf dem Land erzählten mir, sie hätten befürchtet, das Theater sei doch nichts für sie. Sie seien sich sogar nicht einmal sicher gewesen, ob man sie hineinlässt."

Michael Köhlmeier

Unsere Nachbarn hier auf dem Land erzählten mir – sie sind schon lange tot –, sie seien nur einmal in ihrem Leben in Wien gewesen, und da hätten sie sich überreden lassen, im Burgtheater ein Stück von Shakespeare anzu­sehen, „König Lear“. Nie seien sie bis dahin im Theater gewesen und seit damals auch nicht mehr. Sie hätten befürchtet, das sei doch nichts für sie; sie seien sich ­sogar nicht einmal sicher gewesen, ob man sie hineinlässt. Dann aber hätten sie gesehen, dass neben ihnen Männer ohne Krawatte und Frauen in Turnschuhen gesessen sind, und da hätten sie sich gedacht, aha, wenn das geht, wird man uns auch nicht hinauswerfen.

Wie ihnen das Stück gefallen habe, fragte ich sie. Es sei wunderbar gewesen, am Anfang hätten sie sich mit der Sprache noch etwas schwergetan, aber dann seien sie hineingekommen. Es sei ihnen zu kurz erschienen, obwohl es dreieinhalb Stunden gedauert habe. Sie hätten später noch oft darüber geredet, erzählten sie, und sie seien nicht immer der gleichen Meinung gewesen.

Langes Gespräch über König Lear

Die Frau zum Beispiel habe mit dem ­alten König schon auch Mitleid gehabt, aber sie habe ihn auch ausschimpfen mögen; es gehöre sich nicht, die Töchter antreten zu lassen vor Leuten, die nicht Familie sind, und dann von ihnen zu verlangen, sie sollen eine nach der anderen sagen, wie sehr sie den Papa lieben. Der Mann sagte, jaja, sie habe schon recht, aber er sehe es doch etwas anders, er sei eben ein Mann, und die Männer, weil sie das ganze Leben außer Haus arbeiten müssen, kriegen zu wenig von der Liebe mit, und dann wollen sie am Ende alles auf einmal, das müsse man verstehen, ihm tue der König sehr leid.

Es war ein langes Gespräch, das ich mit dem Ehepaar aus unserer Nachbarschaft über König Lear geführt habe. Am Ende fragte ich sie, warum sie denn später nie wieder ins Theater gegangen seien. Sie antwor­teten einhellig: Sie hätten gefürchtet, der wunder­bare Eindruck wäre dadurch kleiner geworden.

Das Gute verdünnt sich nicht

Größer wäre er geworden. Das Gute verdünnt sich nicht. Ein Gutes gibt dem anderen. Wer „Macbeth“ gesehen hat, versteht König Lear besser, wer „Othello“ gesehen hat, kann sich besser in Professor Unrat aus dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann einfühlen; und wenn er sich Gedanken über Jago macht, versteht er in Zukunft besser, eine Intrige abzuwehren. Wer Mozarts 40. Symphonie hört, hat ein Instrument gewonnen, um sich bei Shakespeare und in all den anderen Werken der Literatur besser zurechtzufinden. Kunst hilft Kunst über alle Sparten hinweg.

Das Erhabene, was ist es anderes als Teilhabe an der Größe und Herrlichkeit des Menschen. Das Erhabene sind wir selbst."

Michael Köhlmeier

Und warum ist das so? Weil Kunst, ­Literatur, Musik, Theater nicht zum Menschen im Allgemeinen sprechen, sondern zu jedem einzelnen – und das heißt: zu mir. Es gibt im Spiegel nichts Schöneres, nichts Aufregenderes, nichts Interessanteres zu sehen als mich selbst. Ich entdecke in König Lear, dem alten verzweifelt Liebenden, mich selbst; in der absurden Hölle von Samuel Becketts „Endspiel“ sehe ich meine eigene Lee­re in all ihrer absurden Buntheit; aus ­Bruegels „Kinderspielen“ erklingt mein eigenes kindliches Jauchzen; aus Mozarts Musik weht mir Unerhörtes aus meiner Seele entgegen. Das Erhabene, was ist es anderes als Teilhabe an der Größe und Herrlichkeit des Menschen. Das Erhabene sind wir selbst.

So geht Pathos. Und das ist gut.

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

Weiterlesen

Warum Guido Tartarotti das Theater im Lockdown vermisst hat