Wie führt man eigentlich ein Theater, Frau Rötzer?
Noch ist Zeit. Erst im Herbst 2026 übernimmt Marie Rötzer die Josefstadt. Aber wie ist ihr Theaterzugang? Wie sieht das perfekte Ensemble aus? Wie zugehen auf das Publikum? Und was kann Theater verändern? Das alles hat sie uns erzählt.
November in St. Pölten. Vormittag. Draußen die Trostlosigkeit eines Weihnachtsmarkts, drinnen im Landestheater eine Insel der kreativen Betriebsamkeit. Im leeren Theatersaal bastelt Miriam Busch am Bühnenbild von „Wie kommen wir da wieder raus?“ herum. Irgendwie funktioniert der Umbau noch nicht so richtig. Niemand wirkt gestresst. Schön. Wir fotografieren Marie Rötzer im Zuschauerraum und in einer Loge.
Später sitzen wir im Direktionszimmer. Marie Rötzer trinkt Tee. So circa 600-mal schlafen noch, dann ist sie die neue Direktorin der Josefstadt. Ein bisserl viel und auch wenig Zeit noch. Die BÜHNE wollte Streberin sein und schon jetzt nachfragen, wie Marie Rötzer so denkt und arbeitet. Aus der eher nicht so theaterverrückten Stadt St.Pölten hat sie einen Hingucker gemacht. Große Regisseur*innen und viele junge geholt und machen lassen. Ist Letzteres Ihr Geheimnis, Frau Rötzer?
„Ich glaube, man führt ein Theater, indem man multitaskingfähig ist und indem man sich als Dienstleister sieht, den Mitarbeiter*innen und auch dem Publikum gegenüber. Ich begreife meine Arbeit vor allem darin, dass ich die Probleme, die Schwierigkeiten in den Schnittstellen, in der Kommunikation nach innen und nach außen, moderiere und löse. Und natürlich darin, ein künstlerisch hochqualitatives Theater für das Publikum zu schaffen."
Was ist der Vorteil einer nicht spielenden Intendantin?
Vieles. Man muss in der heutigen Zeit ein Theater schaffen, in dem Strukturen herrschen, in denen sich jeder spürt und auch Verantwortung übernimmt. Dafür braucht es viele Gespräche, viel Zeit mit den Mitarbeiter*innen, um auf Probleme einzugehen oder um überhaupt zu wissen, wo in einem Haus Probleme auftauchen. Genauso wichtig ist es dann auch noch, zu reisen, um sich in anderen Theatern umzuschauen, was dort gerade passiert und was State of the Artist. Es geht heute auch darum, internationale Kontakte zu knüpfen und gemeinsame Projekte zu planen. Für mich ist auch die Zeit für Publikumspflege und für den intensiven Kontakt zu den Besucher*innen immens wichtig.
Woher wissen Sie überhaupt, für wen Sie spielen?
Indem ich mich in den Zuschauerraum setze – das mache ich mindestens zweimal bis dreimal in der Woche in unserem Theater, und das mache ich auch in anderen –, da lernt man das Publikum kennen. Gerade jetzt in den Vorbereitungen für die Josefstadt habe ich viel Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen, und in diesen Gesprächen geht es sehr schnell darum, wie ihr Verhältnis zum Theater ist und was sie sich wünschen.
Beim Theater in Wien ist es ja so wie beim Fußball: Jeder kennt sich aus und ist der beste Trainer.
Das stimmt, aber ich mag das sehr gerne, das zeigt ja auch, welche Bedeutung das Theater in Wien hat – so etwas findet man ja in Deutschland eher nicht …
Gerade Theater wie die Josefstadt werden über das Ensemble und seine Publikumslieblinge definiert. Wie gehen Sie vor beim Zusammenstellen Ihrer Theaterfußballmannschaft?
Ideal ist ein Ensemble, in dem sich die Gesellschaft spiegelt. Es braucht ein Spektrum an möglichst unterschiedlichen Charakteren. Für mich ist es wichtig, dass Schauspieler*innen eine starke Persönlichkeit mitbringen und auch eine Verantwortung ihrer Aufgabe gegenüber, und denen sollte man dann auch sehr starke Regiepersönlichkeiten gegenüberstellen. (Lacht.) Was ich schade finde, ist, dass vor allem ältere Kolleg*innen nicht mehr engagiert werden, weil sie vielleicht zu teuer sind.
Die Darstellung und das Spiel sind das Wichtigste am Theater.
Marie Rötzer
Wie macht man einen Publikumsliebling?
Theaterkunst hat in erster Linie mit Darstellung zu tun, mit den Schauspieler*innen – sie sind Identifikationsfiguren. Das Publikum soll sich an ihnen reiben, sich mit ihnen auseinandersetzen, vielleicht sogar Ähnlichkeiten entdecken oder eben das Gegenteil – man soll sein Verhältnis zur Welt überprüfen. Deswegen ist die Darstellung, das Spiel, das Wichtigste am Theater. Im Idealfall steht jede Schauspielerin in der ersten Reihe, bekommt Aufgaben, die ihr entsprechen und die sie dann dem Publikum schenken kann.
Das hat natürlich mit Charisma und Präsenz zu tun. Das ist nicht einfach herauszufinden. Gerade jüngere Schauspieler*innen brauchen Zeit, das muss gefördert werden. Daher würde ich jüngeren Schauspieler*innen nicht sofort große Rollen anvertrauen. Aber das ist auch eine Antwort auf Ihre erste Frage: Man führt ein Ensemble wertschätzend, respektvoll – meine Aufgabe ist die einer Hebamme, die Schauspieler*innen zum Strahlen bringen will.
Ich höre, Sie scheuen auch nicht davor zurück, einzugreifen, wenn Sie merken, dass bei den Proben ein Stück in die falsche Richtung rennt.
Ja. Manchmal muss man eine Kursänderung vornehmen – aber mein Bestreben ist es, diese Korrektur mit allen gemeinsam zu machen. Und ich muss sagen, dass in 99 Prozent der Fälle die Regie von sich aus sagt: Oh, da ist tatsächlich etwas schiefgegangen. Es hilft, dass ich aus der Dramaturgie komme und durchaus kompetent darüber reden kann, wie ein Stück gebaut ist, wie die Architektur eines Theaterabends aussieht. Aber das ist ein unterstützender und betreuender Zugang. Da geht es um die Sache.
Würden Sie ein paarmal brüllen, dann würden zwar alle frustriert sein, aber springen. Klingt anstrengend und energiezehrend, immer alle Menschen mit Argumenten überzeugen zu wollen. Wo laden Sie sich auf?
Gute Frage. Ich glaube, ich bekomme diese Energie aus meiner Begeisterung dafür, dass Theater eine Kunstform ist, die über das L’art pour l’art hinausgeht. Ich bin der festen Überzeugung, dass Theater eine gesellschaftspolitische Macht hat und die Möglichkeit bietet, Menschen zu verändern – oder zumindest so zu bewegen, dass sie aus dem Theater hinausgehen und sagen: „Da habe ich einen anderen Blickwinkel mitbekommen.“
Oder sogar ein Gefühl, um zu erkennen: Man kann Probleme lösen. Dafür ist das Theater da. Viele Menschen fühlen sich alleingelassen oder an den Rand gedrängt. Ich glaube ganz fest daran, dass Theater die Möglichkeit hat, Gemeinschaft zu schaffen. Außerdem sitzen im Theater die verschiedensten Altersgruppen nebeneinander – die Generationen treffen sich hier. Meine Vision ist es, ein Mehrgenerationentheater zu schaffen, aber auch, dass sich hier Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen treffen. Das ist die Utopie, von der ich mich begeistern und lenken lasse.
Merken Sie, dass Sie anders wahrgenommen werden, seit Sie zur neuen Josefstadt-Direktorin bestellt wurden?
Na ja, ich bin jetzt schon mitten in der Vorbereitung, obwohl es erst in zwei Jahren losgeht, aber dass man anders auf mich zugeht – das nehme ich nicht so wahr.
Ist das jetzt kokett oder wahr?
Das ist ganz ernst. Ich nehme schon wahr, dass sich mein Postfach füllt und fast am Anschlag ist. Es gibt viele Vorschusslorbeeren und Menschen, die sehr positiv auf mich zukommen. Aber für mich zählt nur der Moment der ersten Premiere 2026.
Ich glaube fest daran, dass Theater die Möglichkeit hat, Gemeinschaft zu schaffen.
Marie Rötzer
Ein großes Problem für viele Häuser ist die Abonnent*innen-Entwicklung. Menschen wollen sich nicht mehr so binden wie früher. Wie machen Sie das hier in St. Pölten?
Abonnent*innen sind die Stammkundschaft, das ist unser treuestes Publikum. Das kann man natürlich ökonomisch rechnen. Aber wesentlich ist: Es ist ein Fanpublikum, das einen sehr engen Kontakt zu den Schauspieler*innen hat und auch zu uns, den sogenannten Vermittler*innen zwischen Theater und Publikum.
Ich als Direktorin stehe da mit unseren Fans in einem sehr intensiven Austausch. Also wir schreiben nicht nur Briefe oder Mails und ermöglichen einen Blick durchs Schlüsselloch, sondern wir zeigen, was uns gerade beschäftigt, was unsere inhaltlichen Anliegen sind. Wir versuchen, die Abonnent*innen durch unseren Spielplan mitzunehmen und ihnen zu vermitteln, dass die Welt groß ist – und dass vor allem die Theaterwelt eine Welt ohne Grenzen ist.
Und wir wollen mit dem Publikum an unseren Werten arbeiten. Es ergibt Sinn, wenn wir mit unserem Publikum über Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ sprechen oder über Regisseure wie Frank Castorf. Letztendlich ist es dann so, dass diese Offenheit dazu führt, dass die Menschen anspruchsvollerem Theater dann auch neugieriger begegnen. Das würde ohne diesen Kontakt, den wir pflegen, nicht so funktionieren.