Selbsterfindungstrip
Shakespeares „Wie es euch gefällt“ ist eine Komödie über Spielfreude und Spieltrieb – und die Möglichkeit, sich außerhalb bestehender Normen auf die Suche nach sich selbst zu machen. Ein kluges Stück über den Zauber des Theaters, sind sich Nina Siewert und Christoph Luser einig.
Wie kriegt man den Kopf frei, wenn sich gesellschaftliche Normen wie ein alter, zu heiß gewaschener Rollkragenpullover um den eigenen Hals schnüren? Wie entkommt man der ständigen Einengung durch Strukturen, die sich paradoxerweise in innerer Verlorenheit ausdrückt? Und wo fängt die Suche nach sich selbst eigentlich an? Foren, Artikel und Werbetexte für sogenannte Retreats beantworten diese Fragen gerne mit der mystischen Kraft des Waldes. Bei ersten Anzeichen innerer Verlorenheit wird empfohlen: „Rein in die Funktionskleidung und raus in die Natur.“ Waldbaden, Waldyoga und die sporadische Umarmung von Bäumen sind prächtig gedeihende Auswüchse dieses Ansatzes.
Wie es euch gefällt von William Shakespeare
In seiner Beziehungs- und Verwechslungskomödie „Wie es euch gefällt“ schickt Shakespeare sein Figurenarsenal auf einen ebenso komischen wie schlauen Selbst(er)findungstrip. Der Erfolg seines Stücks ist ungebrochen. Weiterlesen...
Doch auch hier gibt es ein Paradoxon: Um die Suche nach sich selbst möglichst erfolgversprechend zu gestalten, scheint es zunächst notwendig zu sein, sich in der Schönheit der Natur zu verlieren. Ein bisschen zumindest. Also wie jetzt? Sich verlieren, um sich zu finden? Und wie viele Waldyoga-Einheiten liegen eigentlich zwischen Selbstfindung und Selbsterfindung?
Alles ist Behauptung
Sehr viel wichtiger ist jedoch die folgende Frage: Was hat das alles mit Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt“ zu tun? Setzt man sich ein wenig mit dem Stück auseinander, hat man die Antwort schnell parat: Der Ardenner Wald, durch den sich Shakespeares – mit sehr viel Witz und Tiefgründigkeit ausgestattete – Figuren in dieser Komödie bewegen, ist ein Ort, an dem es keine Unterscheidung zwischen Selbstfindung und Selbsterfindung gibt. Auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht wird in „Wie es euch gefällt“ nicht als festgeschrieben, sondern als Konstrukt verstanden.
Vom Hofe Fredericks verstoßen, wirft sich Rosalinde kurzerhand in Männerkleider und verschwindet gemeinsam mit ihrer Cousine Celia in den Wald, wo sie zur Strippenzieherin in Liebesdingen wird. „Oder zur Liebe selbst. Was auch immer das genau bedeuten mag“, wirft Nina Siewert, die in Tina Laniks Inszenierung des Shakespeare-Klassikers in die Rolle der Rosalinde schlüpft, augenzwinkernd ein. Die Premiere ist am 17. Dezember im Burgtheater.
An dem Stück reizt sie unter anderem die große Freiheit, die schon der Text mit sich bringt. „Mit Shakespeare kann man sich alles erlauben. Es fühlt sich so an, als würde man einen großen Spielkoffer aufmachen, und plötzlich ist alles möglich und alles Behauptung.“ Rosalindes Verkleidungsspiel dient jedoch nicht nur der Komik, sondern ist vor allem die lustvolle Aufhebung von Zuschreibungen. „Das Stück wirft Fragen auf, die weit über die Ebene der reinen Unterhaltung hinausgehen“, so Siewert. „Ich habe mich oft gefragt, warum Rosalinde genau diese Verkleidung wählt. Das lässt sich einerseits auf einer spielerischen Ebene beantworten, andererseits ist es aber auch so, dass ihre Existenz durch die Verkleidung eher gesichert ist: Müsste ich allein in den Wald gehen, würde ich mich vermutlich auch sicherer fühlen, wenn ich mich dort als Mann ausgäbe.“
Mit Shakespeare kann man sich alles erlauben. Es fühlt sich so an, als würde man einen großen Spielkoffer aufmachen, und plötzlich ist alles möglich.
Nina Siewert, Schauspielerin
Hausmanns neue Hausaufgaben
Seit dieser Spielzeit gehört Ernest Allan Hausmann zum Ensemble des Burgtheaters. In seiner Jugend rettete Breakdance den gebürtigen Hamburger aus der Langeweile. Heute dreht sich bei ihm alles ums Theater. Weiterlesen...
Rosalinde interessiert die Schauspielerin vor allem „in ihrem Menschsein“, fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu. „Die Geschlechtszugehörigkeit ist mir bei der Auseinandersetzung mit einer Figur erst mal egal“, schließt sie ihre Ausführungen mit der für sie typischen Klarheit ab.
Vom Suchen und Finden des Spieltriebs
Christoph Luser, seit der Spielzeit 2019/20 Ensemblemitglied am Burgtheater, spielt Orlando, der sich als Verbannter und lange Zeit Eingesperrter ebenfalls im Ardenner Wald aufhält und sich nichts sehnlicher wünscht, als Rosalinde, in die er sich bei ihrer ersten flüchtigen Begegnung unsterblich verliebt hat, wiederzusehen. „Orlando ist ein Typ, der schon sehr viel Ungerechtigkeit erfahren hat und lange nicht zu dem gekommen ist, was er seiner Meinung nach verdient hat“, erklärt der Schauspieler.
„Ich finde es schön, jemanden spielen zu dürfen, der, nach langer Zeit der Isolation, wieder in die Welt hinausgeht und sie auf teilweise durchaus naive Weise neu entdeckt – und sich dabei, vielleicht auch zum allerersten Mal, verliebt.“ Mit einer gewissen Naivität ist auch Christoph Luser an seine Rolle herangegangen. „Weil ich mich bisher noch mit keiner von Shakespeares Komödien auseinandergesetzt habe, ging es für mich im Grunde bei null los. Ich freue mich aber sehr darauf, mich in diese Figur hineinzudenken und einen gemeinsamen Spieltrieb zu entwickeln.“
Die Frage nach dem Ursprung dieses Spieltriebs ist auch tief in Shakespeares Komödie verankert. Nicht umsonst lautet der wohl berühmteste Satz aus dem Stück: Die ganze Welt ist eine Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
„Warum spielt man überhaupt? Ich habe mir diese Frage auch schon vor der Arbeit an diesem Stück immer wieder gestellt“, merkt Nina Siewert an. Wie der Wald für Rosalinde ist für die Schauspielerin die Bühne ein Mittel, um zu suchen und zu forschen – um bestehende Strukturen infrage zu stellen und sich zu überlegen, was es mit der Welt auf sich hat. „Das Theater bietet die Möglichkeit, Realitäten abseits der Norm auszuprobieren. Und Gegenrealitäten in ihrer absoluten Wahrhaftigkeit aufzuzeigen“, fasst die gebürtige Stuttgarterin zusammen. Christoph Luser stimmt seiner Ensemblekollegin zu. „Wie es euch gefällt“ ist ihre erste gemeinsame Theaterarbeit.
Wie es ist, die Lust am Spielen zu verlieren und sie dann wiederzufinden, hat der gebürtige Grazer bereits erlebt. Bei der Suche danach hat ihm damals nicht die transformative Kraft des shakespeareschen Waldes geholfen, sondern die argentinische Hauptstadt Buenos Aires. Nach zehn Jahren als Schauspieler sehnte er sich nach Abstand und ging für ein Jahr nach Südamerika.
In unserem Beruf passiert es sehr schnell, dass das Verhältnis von Input und Output nicht mehr stimmt. Gerade am Anfang denkt man, dass man alles machen muss.
Christoph Luser, Schauspieler
Gerade am Anfang denkt man, dass man alles machen muss, und es wird zu viel. Nach einiger Zeit begann ich jedoch, das Theater zu vermissen, und die Lust kam zurück“, erinnert er sich. Nach seiner Pause arbeitete er einige Jahre lang als freier Schauspieler. „Ich hatte keine Wohnung, aber in jeder Stadt, in die ich kam, viele Freund*innen“, fügt er schmunzelnd hinzu. In einem Interview aus dem Jahr 2013 formulierte er es folgendermaßen: „Ich suche Sicherheit lieber in zwischenmenschlichen Beziehungen als in vier Wänden.“
Immer wieder bei null beginnen
Wie es gelingt, Input und Output in Balance zu halten, beschäftigt auch Nina Siewert. „Es ist schon ein komisches Ding, das Theater. Einerseits besitzt es einen solchen Sog, andererseits denke ich mir manchmal, dass es komplett wahnsinnig ist, sich so angreifbar zu machen.“ Zudem erfordert es die Bereitschaft, immer wieder bei null zu beginnen. Oder, wie es Nina Siewert ausdrückt: „Es ist eine ständige Reinkarnation. Wenn ich mit einer neuen Arbeit beginne, weiß ich zunächst gar nichts. Dass man niemals zu suchen und zu forschen aufhört, ist für mich aber auch das Schöne an dem Beruf.“
Der vielleicht schon ein wenig überstrapazierte Vergleich zwischen Wald und Theaterbühne drängt sich auch hier wieder auf. Eine wichtige Frage ist dennoch offen: Was bleibt, wenn am Ende des Stückes alle zu sich selbst und zueinander gefunden haben, die Figuren also wieder aus dem Wald in ihre alte Ordnung zurückkehren? „Wenn“, wie Nina Siewert lachend ergänzt, „um fünf Uhr morgens im Club das Licht angeht und man sich denkt, dass man doch gerade noch jemand ganz anderer war?“ Oder, auf das Theater umgemünzt: Wenn man nach der Vorstellung das Theater verlässt und plötzlich wieder nach den Regeln der Realität zu spielen hat?
Die Antwort darauf liegt wohl nicht irgendwo im Wald vergraben, sondern steckt vermutlich in einem selbst. Um sie zu finden, lohnt es sich tatsächlich, hin und wieder in sich zu gehen. Ob mit oder ohne Waldbaden, Waldyoga und Baum-Umarmungen, bleibt allerdings jeder und jedem selbst überlassen.
Zur Person: Christoph Luser
Neben dem Schauspielstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz erhielt Christoph Luser eine klassische Ballettausbildung. Nach seinem Erstengagement am Düsseldorfer Schauspielhaus wechselte er an die Münchner Kammerspiele und gastierte in den folgenden Jahren unter anderem am Burgtheater, am Schauspiel Köln und am Schauspielhaus Graz. Mit der Spielzeit 2019/20 wechselte Christoph Luser vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als festes Ensemblemitglied ans Burgtheater.
Zur Person: Nina Siewert
Die gebürtige Stuttgarterin studierte an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Vor ihrem Engagement am Burgtheater, gehörte sie zum Ensemble des Schauspiel Stuttgart.
Die gebürtige Stuttgarterin studierte an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Vor ihrem Engagement am Burgtheater gehörte sie zum Ensemble des Schauspiels Stuttgart. Im Fernsehen war sie unter anderem als Kommissarin Nele Becker in „SOKO Stuttgart“ zu sehen. Neben ihrer Rolle als Rosalinde in „Wie es euch gefällt“ steht sie auch als Erna Wahl in Arthur Schnitzlers Stück „Das weite Land“ auf der Bühne.