Was, wenn wir alle nur gut wären?
Sibylle Bergs „Toto oder Vielen Dank für das Leben“ ist ihr gnadenlosestes Werk. Jetzt kommt es als großes Spektakel auf die Bühne. Ersan Mondtag führt Regie. Maria Happel singt. Bruno Cathomas erklärt. Ein Probenbesuch.
Das Burgtheater ist leer. Nicht leergespielt. Aber der Publikumsraum ist leer. Auf der Bühne ein Haus. „Klinik“ steht in Leuchtbuchstaben drauf. Eine hochschwangere Frau wankt herein. Sie schreit. Sie torkelt. Sie trinkt. Sie wird gleich gebären.
An der Seite steht ein Mann in Dreiviertelhosen, ein Kuscheltier in der Hand, und erzählt. Das ist Bruno Cathomas, Publikumsliebling aus Köln und einer der beiden Hauptdarsteller – und das aktuelle Cover-Model (ja, auch wir nennen das so, nicht nur unsere Kolleg*innen von der Mode) der BÜHNE.
Vor der Bühne im Orchestergraben ein Dirigent, der zuerst die Musiker*innen die Szenerie untermalen lässt, dann setzt ein Chor ein. Es gibt ein, zwei Gesangssoli der Schauspieler*innen. Die Frau schreit. Sie wird ans Bett gefesselt.
Dann wird Toto geboren. Ein derart hässliches Kind – das sagen nicht wir, sondern das schreibt die Autorin –, dass sich Ärzte und Schwestern übergeben müssen. Hier wäre jetzt der Auftritt von Maria Happel – als Toto.
Thomas Bernhard, schau owa
Ein kleiner Spoiler: Maria Happel wird in dem Stück kaum etwas sagen, sondern vor allem singen – was sie, wie man spätestens seit dem Stück „Spatz und Engel“ weiß, ziemlich gut kann. Wobei, das könnte sich noch bis zur Premiere ändern – denn unser Besuchstag ist der erste Bühnenprobentag.
Das bedeutet: Alles (oder auch gar nicht viel) kann noch umgeändert werden. Das hängt normalerweise weniger von diversen Launen ab als davon, wie die Proben laufen und was sich daraus entwickelt. Sie verzeihen, wenn also Dinge, von denen Sie hier jetzt lesen, bei der Aufführung nicht oder anders stattfinden werden. Es bleibt bei der Vorberichterstattung immer ein Restrisiko ...
Zur Person: Bruno Cathomas
Vor 59 Jahren in den Schweizer Bergen geboren, spielte er an allen großen Bühnen in Deutschland. Zuletzt war er in Köln in Stefan Bachmanns Ensemble einer der Publikumslieblinge. Cathomas drehte Filme und spielte in unzähligen Fernsehserien (von „Tatort“ bis „Klara Sonntag“). Cathomas führt auch erfolgreich Regie. Er spielte bereits in mehreren Sibylle-Berg-Uraufführungen.
Ersan Mondtag und der Hype
Auf dem ersten Rang ganz im Dunkeln sitzt ein Mann mit Locken, ein Mikrofon in der Hand, und nickt: Das ist Ersan Mondtag, der Regisseur. Er hat nicht nur mit seinem deutschen Pavillon gerade die Kunstbiennale von Venedig gerockt – er ist derzeit ein Must-have für jedes Theater und jedes Opernhaus.
Das Stück, das er inszeniert, ist Sibylle Bergs Meisterwerk „Toto oder Vielen Dank für das Leben“.
Als wäre sie (vielleicht ist sie es ja) die literarische Wiedergeburt von Thomas Bernhard, wandert Sibylle Berg durch die Welt und holzt mit ihren brillant messerscharfen Sätzen alles um, was mittelmäßig, spießig und bösartig ist. Ein berührender und erschütternder verbaler Amoklauf von 1966 bis ins Heute.
Wir haben das Stück wie einen Film angelegt, wie ein Musical – aber ohne Kameras.“
Ersan Mondtag, Regisseur
Sibylle Berg und ihre Wortaxt
Toto wird in der DDR geboren. Zu dick, zu groß, zu hässlich. Seine Mutter ist an ihren Träumen gescheitert. Alkoholikerin. Der Vater irgendwer. Die Ärzte lassen die Mutter wählen, was Toto sein soll – sie entscheidet sich, dass Toto ein Bub ist, und stirbt anschließend.
Toto kommt ins Heim und strandet später auf einem Bauernhof im Stall – dort entdeckt er seine Stimme und beginnt zu singen. Egal wo Toto ist, die Welt begegnet ihm mit Ausgrenzung, Ablehnung und Gewalt.
Er flüchtet (zufällig) in den Westen.
Toto landet in einem Rotlichtviertel, verliebt sich wieder und wieder in seine Kinderheimliebe Kasimir, wird zur Frau – und stirbt am Ende der Reise, weil Menschen das tun. Danke für das Leben. Sibylle Berg streift mit der Wortaxt durch die 80er-, 90er- Jahre und durch die Zeit bis zum Jetzt. Niemand und nichts bleibt verschont und unbeschrieben. Dabei ist Toto der vermutlich gütigste Mensch der Welt.
Burg goes Opera
Sibylle Berg hat selbst die Bühnenfassung geschrieben, Benjamin Brachtel die Musik dazu komponiert. Der Mann ist übrigens musikalisch breit aufgestellt: Er hat in Linz an der Bruckner-Uni Jazz studiert, in Techno-Clubs rund um die Welt aufgelegt und Zwölftonmusik für die Bayerische Staatsoper komponiert.
Burg goes Oper also? Ein Singspiel? Ersan Mondtag, der Regisseur, grinst: „Es wird auf jeden Fall ein Spektakel.“
Ich finde es schön, wie Sibylle Berg über die Figur Toto die Kleinbürgerlichkeit auseinandernimmt.
Bruno Cathomas, Burgschauspieler
Das Stück spielt an so vielen Orten. Wie bekommt man das hin – selbst wenn man wie Sie als Meister der Räume gilt?
Ich habe dieses eine Gebäude gebaut. Es ist eine verlassene Klinik, es fungiert als Waisenhaus, als Bar, als Wohnung. Alles spielt in dieser Bühnenrealität. Es spielt in unterschiedlichen Jahrzehnten. Es sind immer dieselben Schauspieler, die im Osten und im Westen die Guten und die Bösen spielen. Es sind Archetypen von Figuren. Aber es gibt nur eine Figur, die wirklich gut ist. Und das ist Toto.
Wenn man Sibylle Bergs Buch liest, dann hat man sofort die Stimme von Anohni – vormals Antony von Antony and the Johnsons – im Kopf, wenn Toto singt ...
(Lächelt.) Ja, ich glaube, er ist die Vorlage, aber er konnte nicht mitmachen. Maria Happel spielt Toto, und das ist wunderbar. Im Grunde ist das ja ein Musical, was wir hier machen. Es sind 29 Lieder in dem Stück, und es hat eine eigene Musiksprache. Wir haben das Ganze wie einen Film angelegt. Man schaut eigentlich einem Live-Film zu, ohne dass es Kameras gibt.
Sie sind derzeit einer der gefragtesten Regisseure. Beschreiben Sie mir Ihre Arbeitsweise.
Es gibt zuerst einmal die Bühnenrealität. Dann baut sich alles um das Bühnenbild und die Kostüme herum. Ich arbeite wie in der Oper. Ich inszeniere alles direkt und arbeite immer durch. Ich bin kein Regisseur, der wochenlang am Tisch sitzt und diskutiert. Es wird einfach direkt gearbeitet.
Hat Ihr Biennale-Erfolg etwas verändert?
Bei mir hat sich nichts geändert. Ich glaube aber, dass die Menschen einen anderen Blick auf mich haben. Das hat meine Position ein bisschen verbessert – die Menschen haben ein wenig mehr Respekt vor mir.
Und da wäre noch Kasimir
Eine Figur in Sibylle Bergs Roman haben wir Ihnen bislang unterschlagen: Kasimir. Toto lernt ihn im Heim kennen. Sie verbringen eine sehr zärtliche und asexuelle Nacht miteinander. Später macht Kasimir im Westen Karriere, verfolgt Totos Leben – und will ihn vernichten.
Bruno Cathomas ist Kasimir. Aufgewachsen in einem Dorf in der Schweiz, lernt er zuerst Schlosser. Später studiert er Schauspiel und spielt sich quer durch alle wichtigen Theater in Deutschland. Er dreht fürs Fernsehen (von „Tatort“ bis „Klara Sonntag“) und ist in unzähligen Filmen zu sehen, gewinnt den Schweizer Filmpreis als „Bester Darsteller“. Er arbeitet als Regisseur – und mehrfach als Schauspieler für Ersan Mondtag.
Burg – eine Liebeserklärung
Jetzt, mit 59 Jahren, ist er am Burgtheater gelandet: „Ich bin von diesem Haus und seiner Professionalität beeindruckt und begeistert. Diese Zugewandtheit, dieses Für-etwas-da-Sein! Ich habe das Gefühl, in der Champions League angekommen zu sein. Heutzutage fehlen den meisten Bühnen die Manpower und die Zeit, und hier an der Burg hast du beides. Man muss als Schauspieler eigentlich nur sich selber aushalten und sich überlegen, wie man mit seiner Eigenverantwortlichkeit umgeht. Mein Ehrgeiz war am Anfang meiner Karriere sehr groß und wurde dann durch das System runtergekürzt, und hier wird er neu entfacht. Ich möchte auf dem Zentralfriedhof begraben werden, ohne einen Grabstein, sodass sie mich umarmen oder anspucken können.“ (Lacht.)
Bei Sibylle Berg hat man das Gefühl, dass sie mit dem verbalen Dreschflegel durchs Land zieht ...
Ja, das macht sie sehr oft, und ich liebe sie dafür. Ich habe ja bereits ein paar Uraufführungen von Sibylle Berg gemacht, aber ich finde, dieses Buch ist ihr schönstes. Es ist einerseits die Innensicht einer Figur, die sich nicht definieren lässt – was mich sehr abgeholt hat. Und dann ist es eine wunderbare Gegenüberstellung von zwei Systemen, die in sich selber nicht stimmig sind: weder das sozialistische noch das kapitalistische System. Ich finde es schön, wie sie über diese Figur und die Beschreibung der Gesellschaft die Kleinbürgerlichkeit auseinandernimmt.
Toto selber ist es ja völlig egal, wer und was er ist.
Das ist genau das, wo sich die Gesellschaft angegriffen fühlt: wenn jemand so agiert und alles auf sich nimmt. Und meine Figur des Kasimir arbeitet sich an ihm ab – in seiner Kleinbürgerlichkeit, indem er das Schöne vernichten will und sich dabei selbst zerstört.
Ich verstehe die Rolle des Kasimir nicht ganz. Er liebt doch Toto. Da ist ja zuerst diese unglaubliche Zärtlichkeit am Anfang.
Man kennt das ja von einem selbst: Man verletzt oft Menschen, die einem sehr nahe sind – weil man sich nicht aushält. Kasimir flüchtet sich – oder eher: rettet sich – in den Kapitalismus, in die Perfektion. Und er ist nicht fähig, einfach zu lieben – was Toto aber ohne Bedingung macht. Das ist etwas, was kein anderer Mensch kann. Das hält man nicht aus. Stellen wir uns doch eine Gesellschaft voller Totos vor: Das wäre eine Art Paradies. Toto hat diese Gabe, nahezu unbeschädigt durch diese furchtbare Welt zu gehen. Toto singt auch nicht, um berühmt zu werden, sondern weil es Ausdruck ihrer/ seiner Seele ist.Toto ist fast eine religiöse Figur, für die es dann wiederum so eine Figur wie Kasimir braucht.
Sie sind nicht nur Kasimir, sondern Sie fungieren auch als Erzähler. Ich durfte kurz bei den Proben dabei sein und war erstaunt, wie nahe die Dialoge am Romantext sind.
Das ist nicht ganz einfach, muss man ehrlich sagen. Dadurch, dass ich immer erzähle, ist es nicht mehr situativ.
Aber die Texte und die Sprache sind so poetisch gemacht – wenn man da als Schauspieler begriffen hat, wie es gebaut ist, wird es wunderschön. Derzeit sind wir noch zu brav und zu erzählerisch. Aber das wird schon noch bis zur Premiere (Lacht.) – das kenne ich von anderen Berg-Stücken. Man muss nur ihren Bildern vertrauen.
Was wünschen Sie sich vom Wiener Publikum?
Liebe, Zuneigung und Anerkennung.
Das wäre eigentlich der perfekte Schlusssatz, aber Sie müssen noch erzählen, dass Sie Schlosser waren. Wie kommt man von da zur Schauspielerei? Und warum ausgerechnet Schlosser?
Weil ich in der Schweiz in einer Umgebung aufgewachsen bin, in der sich niemand vorstellen konnte, irgendetwas mit Kunst zu machen. Die Schlosserei war so eine Abzweigung, die mein Leben falsch genommen hat. Dann habe ich die Schauspielschule gemacht, und das hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt – auch meine Begrifflichkeit. Ich wurde vor 59 Jahren in einem Dorf auf 1.100 Metern geboren, und hier in Wien, am Burgtheater, bin ich in einer Welt angekommen, wo ich, seit ich von dort weg bin, immer hinwollte. Es ist ein Neustart und auch irgendwie ein Ankommen. Und beides beglückt mich sehr.