Mehr unsterblich geht nicht. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Georges Bizet und möchten bei jeder Premiere Ihrer Oper persönlich anwesend sein. Allein heuer wären Sie recht viel unterwegs: Lüttich, Verona, Berlin, Stockholm, Budapest, Prag, Neapel, Leipzig und dann Volksoper Wien. Für Sie (als Bizet) die emotionalste Premiere – denn nachdem Ihre Premiere in Paris gefloppt war, startete erst nach der Aufführung im Oktober 1875 in Wien der Siegeszug um die Welt.

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Als echter Bizet hätten Sie das im Übrigen nicht mehr erlebt – er starb im Alter von nur 36 Jahren am 3. Juni in Bougival nahe Paris.

Hits und viel Froufrou

„‚Carmen‘ ist ein unsterblicher Hit geworden, weil die Musik so unglaublich schön ist und mit großer Emotion und der Leichtigkeit einer Operette geschrieben wurde – und die Oper hat eine der faszinierendsten Protagonistinnen aller Zeiten“, sagt Regisseurin Lotte de Beer. Stimmt. Die Rolle der Carmen ist der fast noch größere Hit: Eine Frau will ein selbstbestimmtes Leben. Will Freiheit. Will Liebe. Will Sex. Und verdreht dem tragischen Helden Don José derart den Kopf, dass dieser vom Militär desertiert und zum Schluss sogar zum Mörder wird.

De Beer: „Ist Carmen tatsächlich die freie, unabhängige Frau, für die wir sie halten, oder ist sie vielmehr die Gefangene des Mythos von der freien, unabhängigen Frau? Sind es nicht gerade die Männer, die ihr diese Unabhängigkeit andichten, damit sich ihre Eroberung umso mehr lohnt? Vielleicht ist ihr Leben keine Reihe provokanter Entscheidungen, vielleicht ist es bloß ein Drehbuch, in dem sie die Rolle spielt, die sie spielen muss.“

Bedeutet: Die Volksopern-„Carmen“ spielt mit einer Theatermetapher, in der Carmen glaubt, sie sei die Einzige, die die Spielregeln kennt. Dann aber versteht sie, dass sie darin nur eine Funktion hat: zu sterben.

Klingt ein bisschen nach schwarz-weißem Regietheater, wird es aber nicht. Lotte de Beer: „Das Stück ist sehr operettenhaft gedacht, mit viel Choreografie, viel Froufrou, schönen Kostümen und Perücken. Es wird so sein, dass das Publikum sagt: Ja, so soll ‚Carmen‘ sein.“

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Katia Ledoux
„Katia Ledoux verführt mit nichts als ihrer Stimme. Aber wie sie verführt!“, schrieb die NZZ.

Foto: Hilde van Mas

Der Traum von Carmen

Die Sopranistin, die im rosa Haus am Gürtel die Carmen singen wird, hat davon bereits als Kind geträumt. „Ich habe den ‚Carmen‘-Film mit Julia Migenes gesehen und wusste, dass ich diese Rolle einmal singen will.“ Da war Katia Ledoux vier Jahre alt. Heute – dreißig Jahre später – hat die in Paris geborene und in Wien aufgewachsene Sängerin ihr Ziel erreicht. Gleich zwei Premieren feiert Ledoux dieses Jahr als Carmen. Einmal im Mai in der sehr experimentell-außergewöhnlichen „Carmen“ der New Yorker Film- und Performance-Künstlerin Wu Tsang. Die „NZZ“ schreibt: „Katia Ledoux verführt mit nichts als ihrer Stimme. Aber wie sie verführt! Die Reichhaltigkeit, diese schillernden Farben der Figur …“

Katia Ledoux ist tatsächlich ein Ereignis. Auch ohne Bühne. Ihre positive Präsenz ist raumfüllend. Ledoux ist ein Statement.

Wer ist Carmen?

Sie lacht. „Bei der Carmen, die ich verkörpere, geht es nicht um das perfekte Schönheitsideal. Dafür bin ich zu dick, zu Schwarz, zu tollpatschig. Aber Ideal hin oder her: Ich weiß, dass ich verdammt gut aussehe, so, wie ich bin!“

Ist Carmen-Sein sowieso nicht eher eine innere Einstellung, eine Haltung, die völlig entkoppelt ist von optischen Vorurteilen?

Katia Ledoux nickt: „Was macht Carmen attraktiv? Wenn es nur ihre schmale Taille wäre, dann würde das keinen Sinn ergeben. Es ist nicht das, was Menschen fasziniert. Hier beginnt die nächste Frage: Wie inszeniert man Faszination? Ich glaube, es geht um die Liebe zum Leben. Es geht darum, das Glück und die Liebe auch auszustrahlen. Jeder kennt das, wenn man Menschen auf der Straße begegnet, die strahlen. Da kommt dann auch etwas zurück. Und diese Ausstrahlung ist wichtiger als das Aussehen. Jeder Mensch kann daher Carmen sein! (Lacht.) Auch stimmlich: Diese Oper ist so komponiert, dass sie von einem Sopran, aber auch von einem Mezzo gesungen werden kann. Es geht um die Story, die erzählt wird – und auch die kann überall spielen. Das ist einzigartig.“

Jeder Mensch kann Carmen sein!

Katia Ledoux, Mezzosopranistin

Angst, Regeln nicht zu verstehen

Das Fotoshooting und auch das Interview finden im dritten Stock der Volksoper statt. Hier ist eine der Probebühnen, von ihr schaut man durch große Glasfenster hinunter auf die Gürtelbögen. Katia Ledoux war fix am Opernstudio der Zürcher Oper engagiert, als Corona kam, und weil in ganz Europa junge, flexible Sänger*innen gesucht wurden, sang sich Ledoux durch Europa.

„Ich bin ein großer Fan von Escamillo, aber das Duett zwischen Carmen und ihm ist extrem kurz, und ich glaube, dass Bizet es absichtlich so knapp gehalten hat, weil er keine reine Liebesoper machen wollte. Escamillo ist auch der einzige Mann, der Carmens ‚Nein‘ akzeptiert, er ist die einzige Person, die ihre Entscheidungen nie hinterfragt. Das macht etwas ganz Großes mit Carmen. Ja, es geht in der Oper um Liebe, aber es geht auch um Sex und Gewalt und auch um Rassismus. Es gibt diese Szene, als Carmen mit Don José flirten will und zu ihm sagt, dass sie aus der gleichen Gegend kommt. Er antwortet: So, wie du aussiehst, glaube ich das nicht …“

Rassismus kennt Katia Ledoux. Diese Spielart des Bösen hat viele Gesichter. Eines davon war das eines Lehrers. Er fand es lustig, die damalige Studentin mit den Worten „Hallo, mein Quoten­­n***er!“ zu begrüßen.

Alles, bloß nicht langweilig.

Das war vor ein paar Jahren. Mittlerweile ist ein Teil der Gesellschaft offener und ein anderer noch radikaler geworden. Warum ist das so? Ist es ein Weißer-Mann-Problem?

Katia Ledoux zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich glaube, da ist eine Angst, einfach die Regeln nicht mehr zu ver­stehen. Früher waren die Machtverhältnisse klar, ebenso die Seilschaften. Jetzt werden diese Dinge hinterfragt und ­geändert, und plötzlich drohen Regelwerke zusammenzubrechen. Das verunsichert.“

Katia Ledoux gehört zu einer neuen Generation hoch talentierter Sänger*innen, die sich ihres Könnens durchaus bewusst sind und denen das kokette Tiefstapeln früherer Generationen fremd ist. Das ist erfrischend ehrlich und mutig. Mit dieser Ehrlichkeit erhöhen sie aber auch den Erfolgsdruck auf sich selber. Denn mit Understatement wird wenig erwartet. Es ist aber auch langweiliger als andersrum.

Katia Ledoux: „Natürlich habe ich den Zugang, dass ich die beste Carmen meiner Generation sein möchte. Wenn ich weniger wollen würde, wäre das dem Publikum gegenüber unfair. Ob ich dieses Ziel auch erreiche, werden wir sehen – immerhin arbeite ich darauf hin, seit ich vier Jahre alt war.“ (Lacht.)

Katia Ledoux
Katia Ledoux beim BÜHNE-Shooting.

Foto: Hilde van Mas

Carmen und noch einmal die Liebe

Eigentlich wollte Ledoux nicht mehr nach Wien zurück, aber als Lotte de Beer die Volksoper übernahm, änderte sie ihre Meinung: „Sie hat gesagt, dass sie die Opernwelt verändern und ein feministisches, antirassistisches und queeres Haus leiten möchte. Sie hat damit alle Reiz­wörter gesagt, auf die ich reagiere …“(Lacht.)

Aber ist Carmen queer? Katia Ledoux beginnt noch schallender zu lachen: „Ich bin eine queere Frau – wenn ich Carmen spiele, dann ist sie automatisch eine queere Frau.“ Und das schaut dann wie aus?

„Wie wir am Anfang besprochen haben: Carmen hat viel mit Haltung zu tun!“

Patricia Nolz

Junge Opernsänger*innen, die 2024/25 in Wien zu sehen sein werden

Sie sind die Stimmen einer neuen Generation von Opernsänger*innen – buchstäblich wie auch im metaphorischen Sinne. Einige jener außergewöhnlichen Künstler*innen, die in der Saison 2024/25 die Wiener Opern- und Konzertbühnen mit ihrem Gesang und Spiel bereichern werden, haben wir in dieser Liste versammelt. Diese stellt natürlich nur eine Auswahl dar und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Weiterlesen...