„Die wahre Kunst liegt darin, – wenn Sie so ein Horoskop sehen, das ist ja für einen Nicht-Astrologen eine Zeichnung, mit der man gar nichts anfangen kann –, dieser Zeichnung sozusagen Leben einzuhauchen“, sagt der Astrologe Harald Thurnher in Julia Novaceks und Artemiy Shokins Stück „Streams. Catching Caches“. Ein bisschen wie im Theater, wo Texte im Grunde auch erst durch das Spiel auf der Bühne zum Leben erweckt werden. Die Arbeit Thurnhers macht zwar nur einen kleinen Teil des teils dokumentarischen Theaterabends aus, der Gedanke scheint sich jedoch über die Produktion als solche zu spannen. Die von Expert*innen der Stenografie, Klimaforschung, Komplexitätsforschung, Technikforschung und Astrologie gesammelten Daten und Aufzeichnungen werden in „Streams“ jedoch nicht nur auf die Bühne gebracht und so zum Leben erweckt, sondern auch in ihren jeweiligen Entstehungsgeschichten nachgezeichnet. Über alldem stehen die beiden Fragestellungen: Wie entsteht Wissen? Wie passiert es, dass etwas zur Wahrheit wird oder zu einer Zahl, an der sich plötzlich alle orientieren?

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Die Entstehung von Wissen hat inzwischen in fast allen Bereichen sehr viel mit Digitalität und Algorithmen zu tun.

Julia Novacek & Artemiy Shokin

Zweite Runde

„Die Entstehung von Wissen hat inzwischen in fast allen Bereichen sehr viel mit Digitalität und Algorithmen zu tun. Nicht nur, aber vor allem auch dort haben wir meist keinen Einblick in die Prozesse, wir kennen maximal die Resultate davon. Diese in einem gemeinsamen Moment zu erkunden, live, im gerade noch analogen Raum, ist ein Weg, der vielleicht paradox, vielleicht aber auch gerade hilfreich ist, um bei der Reflexion über das perfekte Interface hinauszukommen oder, anders gesagt, tiefer in die Blackbox hineinzugeraten und sich auch ein bisschen beunruhigen zu lassen“, so Julia Novacek und Artemiy Shokin über ihr Stück, das 2021 schon dreimal im Werk X-Petersplatz zu sehen war, aufgrund des damals kurzfristig verhängten Lockdowns aber keine weiteren Aufführungen erfahren hat. Am 25. Juni 2023 ging „Streams“ – als letztes Stück der Intendanz von Cornelia Anhaus – in die zweite Runde. Wir treffen Julia Novacek nach einer der Wiederaufnahmeproben am Petersplatz. Während unten im Theaterraum der Energielevel stetig ansteigt, entladen sich über den ersten Bezirk all die Regentropfen, die sich der Himmel in den ultraheißen Tagen zuvor verkniffen hat.

„Es fühlt sich gut an, sich wieder mit dem Stück zu beschäftigen“, sagt Julia Novacek, die für ihre genreübergreifenden Inszenierungen bekannt ist. „Die Probenzeit vor der Wiederaufnahme gibt uns die Möglichkeit, an Details wie unter anderem Übergängen zu arbeiten. Außerdem haben wir durch die Projekte, an denen wir in der Zwischenzeit gearbeitet haben, teilweise einen anderen Blickwinkel auf die Themen.“

Julia Novacek
Julia Novacek, geboren 1989 in Wien, ist Performance- und Videokünstlerin. Sie studierte Kunst und digitale Medien sowie Kunst und Film an der Akademie der Bildenden Künste Wien und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sowohl filmisch als auch performativ ist der feministische Blick leitend in ihrem Schaffen.

Foto: Christin Schuhmann

Wer beobachtet eigentlich wen?

Was die Arbeit an dem Stück ausgelöst hat, möchten wir unter anderem von Julia Novacek wissen. „Das waren unterschiedliche Dinge. Unter anderem die Klimathematik und das dadurch stets präsente Ende – der Versuch, zu errechnen, wann es zu spät ist, das Ruder noch herumzureißen. Darüber hinaus aber auch die ständige Suche nach Daten und die damit verbundene Abhängigkeit von Zahlen – zum Beispiel während der Corona-Pandemie. Es ist aber auch ein persönliches Interesse von mir, zu verstehen, wie die Expert*innen zu ihren Modellen und Datensätzen kommen“, antwortet die 1989 geborene Künstlerin. Zudem war es ihr wichtig, zu zeigen, dass kein Algorithmus perfekt ist, dass sich Dinge überlagern und jedes noch so ausgeklügelte technische System fehleranfällig ist. In diesem Zusammenhang war der Begriff des „Glitches“ ein sehr zentraler.

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Auf der Bühne werden nicht nur verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch unterschiedliche darstellerische Mittel miteinander verschränkt. Video-Interviews mit Expert*innen wie der Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb spielen ebenso eine Rolle wie eine hybride, namenlose Figur (gespielt von Clara Reiner) und ein Avatar, den die Multimedia- und Videokünstlerin Eni Brandner steuert. „Wobei das auch wieder so eine Frage ist, die uns total interessiert hat: Wer steuert eigentlich wen? Oder entsteht nicht alles, angelehnt an Donna Haraway, aus einem Netzwerk heraus? Und auf das Theater übertragen: Wer beobachtet eigentlich wen?“, merkt Julia Novacek an.

Wirklichkeit stenografisch abgebildet

Die Bedeutung des Analogen in einer zunehmend digitalisierten Welt tritt im Stück nicht nur durch den Theaterraum selbst hervor, sondern insbesondere durch eine der Disziplinen, die in „Streams“ vorkommen – die Stenografie. Auf den ersten Blick fast schon museal anmutend, spielt diese vor allem im politischen Kontext nach wie vor eine wichtige Rolle. „Ich war im Deutschen Bundestag und habe gesehen, wie drei Stenograf*innen die gesamte Sitzung festgehalten haben. Das Dokument, das daraus entsteht, ist jenes, das die Wirklichkeit einer solchen Sitzung wiedergibt, gleichzeitig sieht es aber so aus, als wäre es in einer Art Geheimschrift verfasst worden. Man vertraut also nicht den Videokameras und anderen Aufnahmegeräten, sondern den Menschen, die dort sitzen und ihre Arbeit analog verrichten, was wiederum dem Narrativ widerspricht, der Mensch würde komplett durch Maschinen ersetzt. Diesen Gegensatz fand ich spannend. Auch weil er Fragen aufwirft wie: Welche Daten sind echt? Wem glaubt man? Was macht ein vertrauenswürdiges Dokument aus?“, so Novacek.

„Streams. Catching Caches“ möchte diese nicht beantworten, sondern sie mit den Mitteln des Theaters lebendig werden lassen. Und zum Diskurs anregen. Wer vielleicht die ein oder andere Antwort zu den im Stück aufgeworfenen Fragen liefern kann, sind jene Expert*innen, die im Anschluss an die letzte Vorstellung am 29. Juni ins Werk X-Petersplatz kommen: Dr.in Katja Mayer (Soziologin, Senior Postdoc mit dem Elise Richter Fellowship am Department für Wissenschafts- und Technologiestudien der Universität Wien) und Dr.in Alice Vadrot (ao. Univ.-Prof. für Internationale Beziehungen und Umwelt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien sowie int. Forschungsprojekt MARIPOLDATA). Empfehlung.

Zu den Spielterminen von „Streams. Catching Caches“ im Werk X-Petersplatz