Smarter Serienmörder
Leichen pflastern den Weg des Herzogs von Gloucester zum englischen Königsthron. Kateryna Sokolova und Benjamin Bayl erschaffen in „Richard III.“ ein subtiles Psychogramm des faszinierenden Intriganten. Musikalisch ergreift Henry Purcell die Macht.
Keine Oper! Zumindest bittet das MusikTheater an der Wien ausdrücklich darum, „Richard III.“ nicht so zu nennen. Aber was ist dieses Stück mit Musik von Henry Purcell und klassischen Sängern auf der Bühne dann? Regisseurin Kateryna Sokolova und Dirigent Benjamin Bayl, deren gemeinsames Projekt der ambitionierte Shakespeare-Abend ist, einigen sich im Gespräch auf den weitläufigeren Begriff Musiktheater.
„Zu Zeiten Purcells nannte man seine Werke ‚The Fairy-Queen‘ oder ‚King Arthur‘ Masque. Diese waren Vorläufer der barocken Oper in England und hatten, anders als durchkomponierte Werke der Gattung, sowohl Dialoge als auch musikalische Sequenzen“, erklärt Benjamin Bayl. Dass Purcell der Richtige wäre, um Shakespeares berühmte Tragödie durch seine Vertonungen gewissermaßen zu erweitern, darüber waren sich alle Beteiligten rasch einig.
Die Idee, Richards multiple Wesensart von drei Personen darstellen zu lassen, reifte bereits zu Studienzeiten in Kateryna Sokolovas ideenreichem Kopf. Dass es sich dabei nun um einen Sänger, einen Tänzer und einen Schauspieler handelt, ist einerseits in der Form des Musiktheaters nahezu zwingend, eröffnet andererseits aber auch die Chance, Richard III. vielschichtiger zu erfassen.
„Die Genese von Richards Charakter fängt eigentlich bei Shakespeares ‚Heinrich VI.‘ an, weshalb wir daraus auch einige Monologe integriert haben“, erklärt die Regisseurin. „Darin erfahren wir sehr viel über seinen psychologischen Zustand. Sein Verhalten ist ein Defensivmechanismus gegen die Gesellschaft, die ihm von Kindesbeinen an suggeriert hat, er sei deformiert, hässlich, unfähig. Die einzige Möglichkeit, sich nicht umzubringen, sondern irgendwie mit dem Leben zurechtzukommen, besteht darin, andere zu manipulieren. Man wollte ihn zum ‚bad boy‘ machen, also bekommt man nun auch einen solchen. Er ist kein Bösewicht aus dem Nichts, seine Grausamkeit dient der Schmerzverarbeitung. Um etwas von diesem Leben zu haben, wird er zum Tyrannen.“
Zur Person: Benjamin Bayl
studierte an der Royal Academy of Music in London und ist Experte für historische Aufführungspraxis. Er kooperiert u. a. mit der Akademie für Alte Musik Berlin, ist stellvertretender Leiter der Hanover Band und regelmäßig in den namhaftesten internationalen Opernhäusern zu Gast. In der Kammeroper dirigierte er 2019 Leonard Bernsteins „Candide“; Cavallis „Il Giasone“ fiel 2020 Corona zum Opfer.
A sexy brain
„Ja“, antwortet Kateryna Sokolova auf die Frage, ob sie Richard möge. „Nicht seine Gräueltaten natürlich. Aber mich hat immer sein Intellekt interessiert, denn er ist unfassbar eloquent, überzeugend und charmant. Eigentlich ist er, entgegen der gültigen Meinung im Stück, unwiderstehlich. Und das hat mit seiner Intelligenz zu tun, he’s a very sexy brain. Dieser Anteil wird bei uns durch Schauspieler Sören Kneidl verkörpert. Seine Körperlichkeit – er ist in den Augen der anderen ja missgebildet – symbolisiert Tänzer Fabian Tobias Huster. Und für die Emotionalität, Richards tatsächliche Empfindung, ist, wie immer in der Oper, ein Sänger, in unserem Fall Christoph Filler, zuständig. Diese drei Ebenen korrespondieren im Stück ständig miteinander.“
Purcells Musik ist unglaublich modern und relevant, obwohl sie 340 Jahre alt ist.
Benjamin Bayl, Dirigent
Pop anno 1680
Benjamin Bayl hat sich in seinem Leben umfassend mit Purcell beschäftigt, ohne für sich Expertenstatus zu reklamieren. „Er hat so viele Kompositionen geschaffen, die nie aufgeführt werden. Ich halte seine Musik für unglaublich modern und relevant, obwohl sie 340 Jahre alt ist. Er hat ein Talent für Harmonie und Melodie, seine Stücke sind keine zehn Minuten langen Arien wie bei Händel, sondern sehr kurz. Es hat etwas von Popmusik. Wir wollten auch einen Abend schaffen, der tiefer in seine Arbeit eindringt“, erzählt der Dirigent – was umgehend zur Qual der Wahl wurde. Benjamin Bayl erstellte eine Playlist, die täglich umfangreicher wurde. „Wahrscheinlich haben wir zu viel von seiner Musik und müssen bis zur Premiere noch kürzen. Außerdem haben wir auch Komponisten aus der Zeit von Henry Purcell, die in einem Zusammenhang mit ihm stehen, berücksichtigt. Matthew Locke, John Eccles, William Croft und Jeremiah Clarke sind vertreten, auch ein Stück von John Dowland ist ergänzend dabei. Denn diese passen zur Geschichte und ergeben, gemeinsam mit Purcells Musik, ein homogenes Stück.“ Fast möchte man sagen, eine Oper …
Kateryna Sokolova und Benjamin Bayl bezeichnen ihre Kooperation als „Pingpong“, bei dem langsam ein neues Werk entstehe. Auch inhaltlich seien ständig Entscheidungen zu treffen, denn ohne dramaturgische Komprimierung ließe sich Shakespeares Meisterwerk, das unzählige Figuren aufbietet, nicht auf die Bühne der Kammeroper bringen.
Zur Person: Kateryna Sokolova
studierte an der Royal Central School of Speech and Drama in London, assistierte u. a. an der Deutschen Oper Berlin, am MusikTheater an der Wien und am Schauspielhaus Zürich und arbeitete mit Regisseuren wie Christof Loy, René Pollesch oder Stefan Herheim zusammen. Zu ihren Regiearbeiten zählen „Ein Held unserer Zeit“, „Die Entführung aus dem Serail“, „Le nozze di Figaro“ und „Sancta Susanna“.
Erst die Musik – erst das Libretto
Dass Kateryna Sokolova als Regisseurin in den letzten Jahren fast ausschließlich Musiktheater gemacht hat, sei keine bewusste Entscheidung gewesen, sondern Resultat der Auftragslage. Ihre eigenen Klavierkenntnisse dürften dabei kein Nachteil sein. „Für mich fängt jede Arbeit an einem Stück tatsächlich mit der Musik an. Erst dann lese ich das Libretto. Die Musik ist stärker als das Wort und diktiert die Richtung, ob ich das will oder nicht.“
Interessanterweise ist es bei Benjamin Bayl genau umgekehrt. „Wenn ich eine Oper zum ersten Mal dirigiere, steht für mich die Lektüre des Librettos am Beginn. Erst dann beschäftige ich mich mit der Musik. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich mich in der Musik sicherer fühle.“
Er ist kein Bösewicht aus dem Nichts. Seine Grausamkeit dient der Schmerzverarbeitung.
Kateryna Sokolova, Regisseurin
Was beide eint, ist der unbedingte Wunsch nach künstlerischer Gruppenzugehörigkeit. „Die Vorbereitungszeit ist für mich am schlimmsten“, bekennt Kateryna Sokolova, „da sitze ich allein in meinem Zimmer und leide still vor mich hin. Viel interessanter und angenehmer wird es, wenn die Sänger und Musiker hinzukommen, wenn ein Dialog stattfindet. In diesem Austausch merkt man erst, wie wenig man als Einzelperson schaffen kann im Vergleich zu einem Team.“
Wien, Wien, nur du allein ...
... sollst stets die Stadt der Vielfalt sein. Intendant Stefan Herheim setzt in der Wiedereröffnungssaison des Theaters an der Wien neben Klassikern auf zeitgenössische Aspekte. Auf dem Spielplan stehen sowohl „Idomeneo“ und „Norma“ als auch eine True-Crime-Oper, ein aufrüttelndes Musical, eine verdrängte Strauss-Operette, Kafkas „Der Prozess“ und viele Entdeckungen mehr. Weiterlesen...
Benjamin Bayl war vor seiner Dirigentenkarriere Pianist und Organist. „Das schien mir ein sehr einsames Leben zu sein, denn ich wollte nie Solist sein, sondern immer schon lieber gemeinsam mit anderen Menschen Musik machen. Ich arbeite gerne inmitten von Sängern und Musikern, so bin ich auch zur Oper und zum Dirigieren gekommen. Was ich daran besonders mag, ist dieser Mix aus unterschiedlichen Disziplinen – vom Licht über das Bühnenbild bis hin zum Kostüm. Ich finde auch nicht, dass Musik die Königin ist, sondern alle Fachgebiete ergeben zusammen im besten Fall ein überzeugendes Ergebnis.“
Welche Erwartungen haben die beiden an „Richard III.“? „Mir wäre wichtig, dass das Publikum nicht nur schockiert, sondern auch berührt ist, denn Mitgefühl mit einer solchen Figur zu haben zeichnet uns als Menschen doch aus“, findet Kateryna Sokolova. Und für Benjamin Bayl ist es essenziell, ein homogenes Stück zu kreieren. „Eines, das in der Struktur Sinn ergibt, und nicht eines, bei dem man den Zement zwischen jedem einzelnen Ziegel sieht.“