„‚Iolanta‘ ist ein Juwel.“ Sagt Sonya Yoncheva. „Es ist wie bei Puccini, die Musik geht direkt ins Herz. Wenn man sie hört, entstehen in der Sekunde große Bilder im Kopf. Die Gefühle überwältigen einen, und man beginnt zu weinen.“

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„Iolanta“, die letzte Oper von Tschaikowski, wird jetzt an der Staatsoper neu inszeniert. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die von Geburt an blind ist, es aber nicht weiß, weil es ihr niemand sagt und sie von der Welt abgeschirmt lebt – in einem goldenen Lügengebäude, das andere errichtet haben.

Sonya Yoncheva im BÜHNE-Gespräch: „Als ich die Rolle das erste Mal gesungen habe, waren meine Augen blind, und plötzlich hat mein ganzer Körper Dinge zu sehen begonnen, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Iolanta sieht immer die Person ihrer Vorstellung, sie sieht Gefühle und Intentionen. Am Ende ist es schon so, wie Antoine de Saint-­Exupéry geschrieben hat: Man sieht mit dem Herzen am besten – aber nicht nur. Man nimmt Dinge einfach anders wahr. Ich habe mit Direktor Roščić gesprochen, und er sagte: ,Es ist nicht wichtig, ob man die Straße sieht, sondern dass man sie fühlt.‘ Das trifft es.“

Tschaikowski war 1883 zufällig auf den Plot gestoßen. „Ich suche ein intimes, Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selbst erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können“, meinte er kurz zuvor. „Iolanta“ ist all das.

Evgeny Titov ist der Mann, der die Oper in Wien inszenieren wird. Titov hat zuerst in Sankt Petersburg Schauspiel und dann am Reinhardt Seminar Regie studiert und gilt als Shootingstar der Opernregie – eine Bezeichnung, der er eher weniger abgewinnen kann.

Evgeny Titov
Evgeny Titov, 44, ist in ­Kasachstan geboren. Er absolvierte eine Schauspielausbildung an der Theaterakademie Sankt Petersburg und arbeitete ­mehrere Jahre lang als Schauspieler in Russland, bevor er ein Regiestudium am Max ­Reinhardt Seminar in Wien ­begann. Er ­inszenierte an der ­Komischen Oper Berlin, in Zürich, in München und am Royal Opera House in London.

Foto: Thomas Rabsch

Ist es so, dass man nur mit dem Herzen gut sieht?

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Man kann sicher gut mit dem Herzen sehen. Ich glaube, es bezieht sich aber vielmehr auf Gefühle. Die Realität, die uns umgibt, können wir eher begreifen als spüren. Diese Realität ist oft brutal, bedrohlich. Also ist die Frage: Wie entscheiden wir, was wir wahrnehmen und was nicht? Können wir diese Wahrheit aushalten? Wollen wir sie überhaupt an uns heranlassen?

Bedeutet: Iolanta ist nicht nur physisch blind, sondern verschließt auch ihre Augen vor der Realität. Richtig geraten?

Wir sind alle blind, was die Realität betrifft. Aber warum? Weil es anstrengend ist, sich mit dem zu befassen, was wirklich passiert – man könnte dabei verrückt werden. Es ist unfassbar schwer, den Überblick über den Wahnsinn zu bewah­ren, ohne radikale Konsequenzen für sich selbst zu ziehen. Außer man sagt: Es ist alles irrelevant. Wenn Iolanta „sehend“ wird, was wird sie dann sehen? Nur das Licht? Nur das Schöne? Aber wo viel Licht ist, ist immer viel Schatten … und das ist sehr interessant herauszufinden.

„Iolanta“ ist eine der wenigen Opern, die ein Happy End haben.

Nicht an der Wiener Staatsoper. Oder wenigstens nicht ein so plakatives. Was ist besser: süße Lüge oder bittere Wahrheit? Für mich persönlich wäre es viel besser, die unerträgliche Wahrheit zu wissen, als in eine Illusion zu versinken – und obwohl es sehr wehtut und hart zu akzeptieren ist, wäre es sicher ein besseres Ende als ein „kurzsichtiges“ Happy End.

Geht es also auch ums Mitlaufen, ums Durchducken?

Toll, dass diese Fragen auftauchen. Es geht um alles. Es geht darum, den Kontext zu erkennen, in dem man sich befindet, und dem mutig ins Gesicht zu schauen. Wir entscheiden immer selbst, wie weit wir sehen wollen. Ob wir den Kopf in den Sand stecken, sogar wenn wir gar nicht blind sind. Wir machen uns aber oft absichtlich „blind“. Weil es uns besser passt, weil es weniger Arbeit ist, weniger Kraft kostet und weil es gemütlicher ist. Deswegen sage ich: Es geht um alles. Ob Krieg, Politik, Einkäufe im Supermarkt, wir treffen diese Entscheidungen ständig, und meistens sind wir sehr gerne „blind“. Für mich ist Iolanta ein Gleichnis. Sei vorsichtig in deinem Wunsch, die Welt wirklich sehen zu wollen. Wenn alles, was deinen Blick verhindert, weg ist, vielleicht wird dir das, was du dann siehst, gar nicht mehr gefallen.

Theater ist dazu da, um Herzen schmelzen zu lassen, um Unsichtbares sichtbar zu ­machen, um den Horizont zu erweitern.

Evgeny Titov, Regisseur

Erklären Sie mir mal Ihren Blick aufs Theater: Was soll es auslösen? 

Theater ist da, um Herzen schmelzen zu lassen, um Unsichtbares sichtbar zu machen. Um den Horizont zu erweitern und, wenn nicht die Menschen zu verändern, dann sie wenigstens zum Nachdenken zu bringen.

Sie gelten als Shootingstar im Opernregiefach. Cool? Blöd?

Ist das so? Ich komme aus Kasachstan, aus einer kleinen Stadt. Ich habe in Peters­burg studiert und als Schauspieler gearbeitet und dann mit dreißig Deutsch gelernt und ein Regiestudium begonnen. Wenn man so einen wahnsinnigen Weg hinter sich hat, dann bedeuten solche Zuschreibungen nichts. Ich kann mit diesem Begriff überhaupt nichts anfangen. Alles kann von einer Sekunde auf die andere weg sein. Wäre ich fünfundzwanzig, würde mir das vielleicht zu Kopfe steigen. Ich hoffe, ich gelte als ein guter Regisseur. Würde ich glauben, ich sei der Prinz von Kasachstan oder ein Shootingstar, dann wäre alles aus. (Lacht.)

Hilft Ihnen Ihr erstes berufliches Leben bei Ihrer Arbeit?

Das Wichtige ist: Ich arbeite mit Menschen. Diese Menschen müssen geführt werden. Mit diesen Menschen müssen wir zusammen diese Welten erschaffen und dann den anderen Menschen, die im Zuschauerraum sitzen, diese Geschichten über diese erfundenen Menschen erzählen. Sehen Sie, Menschen, Menschen, Menschen – es dreht sich immer alles um Menschen. Beim Schauspiel steht der Mensch mit seinen Gefühlen immer im Vordergrund. Deswegen können wir von gutem Theater berührt werden und sogar uns selbst oder unsere Probleme, Sorgen und Zweifel auf der Bühne erkennen. Daher: Ja, meine erste Ausbildung an der Theaterakademie in Sankt Petersburg ist ein großer Vorteil. (Lacht.)

Zu den Spielterminen von „Iolanta“ in der Wiener Staatsoper!