Varieté neu gedacht: Das Papierfabrik Varietétheater
Fünfzehn Container voller Bauschutt mussten abtransportiert werden, bevor in der ehemaligen Papierfabrik in Klein-Neusiedl Österreichs erstes festes Varietétheater entstehen konnte. Wir haben mit Mitbegründer Marc Dorffner über den Umbau in Eigenregie, das Programm und seine Pläne für die Zukunft gesprochen.
Zuerst Papier, dann Käse, jetzt Theater. Die Gemäuer der 1793 errichteten Papierfabrik in Klein-Neusiedl haben schon einiges gesehen und mitgemacht. Mit ihrer Idee den ersten und einzigen festen Spielort für Varietétheater in Österreich zu errichten, haben Marc und Seraina Dorffner der 1930 geschlossenen Fabrik, die zwischenzeitlich zur Herstellung von Käse genutzt wurde, neues Leben einzuhauchen. Wobei das Adjektiv „hauchen“ einen absolut unzureichenden Eindruck davon vermittelt, wie viel Arbeit, Schweiß und Tränen in den Umbau geflossen sind. Irgendwie passt es trotzdem, denn obwohl kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist und insgesamt 15 Container mit Bauschutt abtransportiert werden mussten, weht nach wie vor ein Hauch von Vergangenheit durch die Räume des Varietétheaters. Marc Dorffner zeigt auf ein großes Stahlgitter, das er behalten hat, um es für sein Raumkonzept zu verwenden. „Es war unser Wunsch, dass erkennbar bleibt, wofür diese Räume früher genutzt wurden“, so Dorffner.
Rückschläge und Hoffnungsschimmer
Zur Papierfabrik kamen sie über seinen Vater, der eine Schlosserei in Klein-Neusiedl betreibt und auf die ehemalige Papierfabrik aufmerksam wurde. „Die Vermieterin meinte, dass man wohl sehr viel Fantasie bräuchte, um aus diesen Räumen ein Theater zu machen, wir könnten uns das Gebäude aber ruhig einmal ansehen“, erinnert er sich. Die Idee, einen fixen Ort in Form eines Theaters zu haben, entwickelte sich erst nach und nach, fügt er hinzu. „Wir dachten zuerst an Street-Shows, dann kam die Idee auf, vielleicht eine kleine Halle für Weihnachtsshows zu mieten. Schlussendlich sind wir dann hier gelandet.“ Man könnte also sagen: Erst Klein-Neusiedl hat das Paar dazu gebracht, groß zu denken. Es folgten zwei Jahre des Tüftelns und Bauens, der Rückschläge und der Hoffnungsschimmer. Vieles davon passierte in Eigenregie. „Es war eine extrem harte Zeit, aber es war auch schön, zu sehen, wie das alles wächst. Mit jedem Steher und jeder Ebene hat sich der Charakter des Gebäudes weiterentwickelt. Ein bisschen wie bei einem Kind, das man aufwachsen sieht“, resümiert Marc Dorffner und lacht. Als zweifacher Papa weiß er, wovon er spricht.
Ins kalte Wasser springen
Herzstück des Programms sind die Eigenproduktionen – Varietéshows, die Geschichten erzählen. „Wir wollten kein reines Nummernprogramm machen“, hält Marc Dorffner fest. „Das hat natürlich auch seine Berechtigung, aber wir hatten Lust darauf, in Stories einzutauchen und uns dabei am Theater zu orientieren. Für die Artist*innen, mit denen wir arbeiten, ist das teilweise eine ziemliche Herausforderung, weil das bedeutet, dass sie auch Text haben und spielen. Von einigen haben wir die Rückmeldung bekommen, dass sie durch diesen Sprung ins kalte Wasser über sich selbst hinausgewachsen sind.“
In viele kalte Gewässer mussten auch die Dorffners springen – und tun es im laufenden Betrieb nach wie vor. „Gerade was die Technik angeht, ist die Lernkurve immer noch sehr steil“, sagt Marc Dorffner lachend. „Trotzdem sind wir in viele Dinge mehr oder weniger hineingerutscht, weil wir in unserer insgesamt zehnjährigen Zeit beim Zirkus immer mehr übernommen haben. Ich habe mich in die Lichttechnik hineingefuchst, teilweise auch Marketing und Video mitgemacht. Das hat uns hier sehr geholfen.“
Neben all den Aufgaben, die mit der Leitung eines Theaters einhergehen, gibt es für Marc und Seraina Dorffner jedoch auch genug Raum, um sich künstlerisch einzubringen. Ihre Varietéshows planen und konzipieren sie meist lange im Voraus. „Thematisch haben wir die nächsten drei bis vier Shows bereits im Kopf“, so Dorffner. Dann werden Ideen gesammelt und es gibt einen Austausch darüber, welche Künstler*innen in das Stück passen. Etwa vier Wochen vor Probenbeginn beginnt Marc Dorffner an der Fassung zu arbeiten und zieht das, wie er erzählt, meist innerhalb von zwei Tagen (und zwei Nächten) durch. Zehn Tage vor der Premiere starten die Proben mit den Artist*innen. Drei Eigenproduktionen entwickeln die Dorffners auf diese Weise pro Jahr, die letzte – mit dem Namen „Kreuzverhör“ – läuft noch bis 8. September. Vorurteile gegenüber der in Österreich eher unbekannten Kunstform gab es kaum. „Ein wenig mussten wir daran arbeiten, dass wir das Schmuddelige, das dem Varieté häufig anhaftet, ein bisschen wegbekommen“, bringt es Marc Dorffner auf den Punkt.
Raus aus dem Kopf, rein in den Körper
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Mit den Rückmeldungen und dem Besucherstrom sei er mehr als nur zufrieden, zeigt sich der Artist, Regisseur und Neo-Intendant erfreut. „Anfangs wurden wir schon gefragt, wie wir uns das vorstellen – da draußen ein Varieté zu eröffnen, wo ja nichts ist. Nun hören wir aber von vielen Ortsansässigen, wie schön es ist, dass es endlich auch etwas in dieser Qualität in der Gegend gibt. Mittlerweile haben wir viele Stammkund*innen, bei denen wir ganz genau wissen, wo sie gerne sitzen und was sie am liebsten essen.“
Neben den Eigenproduktionen, die sie, aufgrund der hohen Nachfrage, ab nächstem Jahr an acht aufeinanderfolgenden Wochenenden zeigen wollen, gibt es in der Papierfabrik ein umfassendes Kabarett- und Musikprogramm bestehend aus Stars und Newcomer*innen.
Der Stolz auf das Geschaffene steht Marc Dorffner zwar ins Gesicht geschrieben, Momente des Innehaltens gibt es aber noch zu wenige. „Es ist wichtig, sich hin und wieder einfach in Veranstaltungen reinzusetzen und zu beobachten – stolz zu sein und zu genießen. Das kommt momentan noch zu kurz“, sagt er und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Wir verabschieden uns mit dem Wissen, dass Klein-Neusiedl ein guter Ort zu sein scheint, wenn man groß denken möchte.