Tollkühner Eskapismus. Das Klassische bilde den zeitlosen Kontrapunkt zur zeitabhängigen Mode, lautet eine prägnante Definition jenes Begriffs, der sich auf nahezu alle Lebensbereiche umlegen lässt: vom klassischen Profil des Hollywoodstars bis zur klassischen Autorennstrecke. Selbiges gilt auch für Literatur, die nicht sofort wieder von jener Strömung, der sie einst entsprungen ist, verschlungen wird, sondern die den Zeitgeist überdauert. Oft über viele Generationen.

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Das bilderreiche Kinderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ des amerikanischen Autors und Illustrators Maurice Sendak fällt zweifellos in die Kategorie Klassiker. 1963 erstmals erschienen, verkaufte es sich seitdem weltweit mehr als 19 Millionen Mal und hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt. Es konnte seinen Ruhm im Laufe der Jahrzehnte sogar genreübergreifend mehren: als Kinofilm von Spike Jonze – und vor allem als Kinder- und Familienoper. 1980 vertonte der Komponist Oliver Knussen das Erfolgsbuch, Maurice Sendak selbst steuerte das Libretto bei.

Die Geschichte, kurz und bündig: Der Junge Max, fantasiebegabt und laut, wird von seiner Mutter gemaßregelt und ohne Abendessen ins Bett geschickt. Plötzlich verwandelt sich sein Kinderzimmer in einen farbenprächtigen Urwald. Mittendrin ein Segelboot, mit dem sich Max auf große Reise über das Meer begibt, dabei ein Seeungeheuer verschwinden lässt und schließlich auf einer vermeintlich paradiesischen Insel landet. Doch die Idylle trügt, denn hier wohnen die wilden Kerle, und die wollen ihm nichts Gutes. Doch es gelingt ihm, sie zu zähmen, schließlich krönen sie ihn sogar zu ihrem König.

Als Max jedoch Heimweh bekommt, segelt er über das Meer zurück in sein Zimmer – und findet dort ein warmes Abendessen vor.

Nikolaus Habjan
Vieldeutiges Markenzeichen. Nikolaus Habjan verhalf den Puppen zu einem regelrechten Theater-Revival. Für „Wo die wilden Kerle wohnen“ arbeitete er mit dem spanischen Puppenbauer Bruno Belil zusammen. Links: Die Puppenköpfe der wilden Kerle. Rechts: der Regisseur mit Puppe Max.

Foto: Isabelle Papst

Auch für Opern-Nerds

„Ich habe das Buch als Kind nicht gelesen“, bekennt Nikolaus Habjan zu Beginn des Gesprächs. Viel zu lesen hätte es auch nicht gegeben, umfasst die deutschsprachige Ausgabe doch lediglich 333 Wörter. „Natürlich kannte ich die Zeichnungen, doch wirklich beschäftigt habe ich mich erst damit, als mich Stefan Herheim (Direktor des MusikTheaters an der Wien; Anm.) gefragt hat, ob ich die Oper inszenieren möchte.“ Er habe sich die Musik angehört und befunden: „Da fällt mir etwas dazu ein.“

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Der Kosmos in der musiktheatralischen Version sei wesentlich größer als im literarischen Original. „Im Buch kommt die Mutter als Person nicht vor, in der Oper hingegen gibt es Dialoge mit ihr. Die Musik arbeitet mit bewusst gesetzten Zitaten. So ertönen in der Ouvertüre und in jener Szene, als Max zum König gemacht wird, die Klänge der Krönungsszene aus ‚Boris Godunow‘. Jedes gute Kindertheater hat nämlich auch eine Erwachsenenebene. Deshalb kann auch der größte Opern-Nerd mit diesem Stück auf eine schöne Entdeckungsreise gehen.“

Unterstützung vom Kinderpsychiater

Im Laufe der Jahrzehnte wurde viel in die Handlung des Buchs hineinpsychologisiert, was naheliegend ist. Schließlich ist allein der Essensentzug als Ausgangslage des weiteren Verlaufs ein Paradebeispiel schwarzer Pädagogik.

„In der Oper verstärkt sich das sogar noch, denn da fällt der Mutter-Satz: ‚Wenn der Vater heimkommt, dann schlägt er dich.‘ Das ist eine heftige Aussage, die man weder lapidar übergehen noch mit einer falschen Bedeutung aufladen darf. Da muss man schon sehr genau hinschauen – weshalb ich mir Hilfe von meinem Freund Paulus Hochgatterer geholt habe.“ Gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendpsychiater, der auch als Autor erfolgreich ist und dessen Stück „Böhm“ Nikolaus Habjan im Schauspielhaus Graz inszenierte, ging er der Frage nach, ob Max tatsächlich aus einer heilen Familie kommt oder ob seine Reise in die Fantasiewelt nicht eher eine Flucht aus düsteren Umständen ist.

Nikolaus Habjan
Die Puppenköpfe der wilden Kerle.

Foto: Bruno Belil

Belehrungstheater sei, wie immer bei ihm, allerdings nicht zu befürchten. „Im Mittelpunkt steht das Kind und wie es sich Problemen stellt und diese löst. Max baut sich mit kindlichem Gemüt aus Konflikten die wilden Kerle zusammen, denen er sich anschließen und die er zähmen kann. Am Ende lassen sie ihn wieder ziehen, was ebenfalls ein schöner Aspekt ist.“ Für Spannung sorgen auch die bei Nikolaus Habjan im besten Sinn obligatorischen Puppen – im Stück symbolisieren sie die wilden Kerle ebenso wie die Seeschlange und eine kleine temperamentvolle Ziege. „Um diese zu realisieren, habe ich mit dem wunderbaren spanischen Puppenbauer Bruno Belil zusammengearbeitet, der eine ganz eigene Ästhetik gefunden hat. Die wilden Kerle sind zwar furchterregend, haben aber auch ein großes Potenzial zum Gernhaben. Auch Max wird teilweise eine Puppe sein, was uns einen Blick von außen ermöglicht und Kommentare aus der Distanz erlaubt.“

Bleibt noch die Frage, warum der abenteuererprobte Max überhaupt zurück nach Hause möchte? „Weil er Hunger hat. Und Sehnsucht nach Zuwendung.“ So einfach kann es manchmal sein.

„Don Giovanni“ mit fünf

Wiewohl die Oper für Kinder ab sechs Jahren gedacht sei, unterscheide sich die Regiearbeit im Wesentlichen nicht von der Herangehensweise an Stücke für Erwachsene. „Ich versuche lediglich, mich in den Wissenshorizont eines sechsjährigen Kindes hineinzuversetzen und zu überlegen, welche Referenzen ich machen kann, ohne mein Publikum zu überfordern. Denn gerade im Kindertheater ist es wichtig, keine Fragezeichen zu hinterlassen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, denn ich habe mit fünf Jahren zum ersten Mal ‚Don Giovanni‘ gesehen und konnte mit dem Begriff ‚verführen‘ nichts anfangen. Kein Erwachsener wollte mir eine klare Auskunft geben, was mich geärgert hat. Schließlich habe ich es doch herausgefunden, wenn auch noch immer nicht ganz verstanden. Aber das ist für mich bis heute ein Wegweiser: Kinder nicht für blöd zu verkaufen.“

Dass er das kann, beweist auch seine „Faust“-Inszenierung für Kinder, die im Grazer Next Liberty seit 2016 läuft.

Andre Schuen

Andrè Schuen: Punk goes Opera

Der gefeierte Bariton aus Südtirol spielte Cello und sang in einer Punkband, ehe er sich für Oper begeisterte. Am MusikTheater an der Wien gibt er nun sein Rollendebüt in „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ und spricht im Interview über prägende Rollen, öffentliche Beurteilung, seine Liebe zum Lied und warum er sich oft googelt. Weiterlesen...

Nicht die größten Talente

„Dass ich von meiner Leidenschaft leben kann“, lautet Nikolaus Habjans Definition von Erfolg, „denn das ist ein Riesen-glück und macht mich seelisch reich. Ich versuche, in meiner Arbeit immer eine schöne Stimmung zu erzeugen, die sich über die Darsteller*innen dann auch an das Publikum vermittelt. Das, denke ich, macht den sogenannten Erfolg aus.“

Stefan Herheim meinte kürzlich im BÜHNE-Interview: „Ich finde, es ist eine Schande, wie wenig sich die Oper um sich selbst kümmert und ihre eigenen Prämissen wahrnimmt“ – er meinte damit vor allem die Professionalität mancher Beteiligter. Kann Nikolaus Habjan dem zustimmen?

„Manchmal bin ich schon erstaunt, wer aller Verantwortung tragen darf, wobei ich die Oper, verglichen mit dem Sprechtheater, eher noch als Zufluchtsort für Handwerk betrachte, weil es ohne einfach nicht geht. Für mich ist es selbstverständlich, dass ich ein Werk, das ich inszeniere, auch genau kenne – das heißt, jede Note und jedes Vorzeichen. Bei einer Mozartoper muss man wissen, dass jede Tonart eine bestimmte Bedeutung hat. C-Dur steht deshalb für das Martialische, weil sie keine Vorzeichen hat und damit auch für ein Orchester, in dem nicht die größten Talente saßen, spielbar war“, schmunzelt er. „Dass bei den wilden Kerlen ‚Boris Godunow‘ vorkommt, ist ein wichtiger Punkt, das muss ich als Regisseur einfach wissen.“ Sein Credo stammt von Marie von Ebner-Eschenbach: „Wer aufhört, besser werden zu wollen, hört auf, gut zu sein.“ Was so viel heißt wie: „Man muss sich konstant überprüfen. Auch dann, wenn es wirklich gut läuft.“