Drei Frauen. Drei Generationen. Und alle erleben in dieser Geschichte ähnliche Verwerfungen, die – und das wird bald klar – weniger dem persönlichen Schicksal als vielmehr gesellschaftlichen Umständen geschuldet sind. Anna Neata erzählt die Lebenswege ihrer Protagonistinnen mit erstaunlicher sprachlicher Leichtigkeit, auf die sie die ganze Bürde des Nichtgesagten setzt, an der Elli, ihre Tochter Alexandra und deren Tochter Eva lebenslang laborieren. Mit welcher unsentimentalen Genauigkeit sie dabei auf ihre vorwiegend weiblichen Figuren blickt und welche Spannung sie über 360 Seiten zu erzeugen vermag, ist unbedingt lesenswert.

Anzeige
Anzeige

Es bedarf sicher vieler Überlegungen, für welche Thematik man sich beim Schreiben letztendlich entscheidet: Warum ist es bei Ihnen eine Familiengeschichte aus weiblicher Perspektive geworden?

Ich fand es interessant zu zeigen, wie es sein kann, dass sich die Geschichten der drei Frauen wiederholen, sich ihre Schicksale wie frühe Schwangerschaften und unglückliche, zum Teil gewaltvolle Beziehungen fast spiegeln. Und ich habe mich gefragt, woran das liegen kann, ob individuelles Glück überhaupt möglich war oder möglich ist in einer Welt, in der Frauenkörpern immer noch eine andere Rolle zugeteilt wird.

Ihre Romanfigur Eva, die letzte in der Frauenkette ihrer Familie, ist beinahe gleich alt wie Sie. Ist das Zufall, oder wollten Sie bewusst eine Ihrer Lebensrealität nahe Figur kreieren?

Das ist eher unbewusst passiert, wichtig war mir vielmehr, wo der Roman spielt. Und für mich konnte diese Geschichte nur in Salzburg spielen, wo ich aufgewachsen bin. In dieser Stadt zu leben war für mich wie in einem ständigen Widerspruch zu leben und gleichzeitig in einem nicht enden wollenden Klischee. Vielleicht bin ich deshalb auch so interessiert an Klischees, weil ich weiß, wie wahr sie sein können.

Teile Ihres Romans spielen zu Zeiten, in denen Sie noch gar nicht gelebt haben. Wie viel Energie haben Sie in die Recherche gesteckt?

Sehr viel Energie. Recherchieren ist ja so eine unsichtbare Arbeit, man arbeitet und arbeitet, und am Ende des Tages hat man nicht eine Zeile geschrieben. Und dann kommt man in der Überarbeitung drauf, dass nicht alles drinbleiben kann, weil es sonst einfach zu kleinteilig wird. Andererseits weiß man aber auch, wenn man jetzt etwas davon streicht, dann verkürzt man. Ich habe auf jeden Fall viel geflucht.

Anzeige
Anzeige

Vielleicht bin ich auch deshalb so interessiert an Klischees, weil ich weiß, wie wahr sie sein können.

Wie lange haben Sie insgesamt an „Packerl“ gearbeitet?

Ich habe acht Jahre daran gearbeitet, immer wieder unterbrochen von anderen Projekten. Am anstrengendsten war es für mich, es so lange mit der Erzählstimme auszuhalten, die zwar ganz nah an den Figuren ist, aber trotzdem ein Eigenleben hat. Sie sollte dieses Raunende haben, auf eine scheinbar harmlose, beiläufige Art das nebensächlich Grausame erzählen.

„Oxytocin Baby“ war Ihr Durchbruch – ein Stück, das sich um Geburt, Schwangerschaft, Abtreibung und weibliche Selbstbestimmung dreht. All das spielt auch in „Packerl“ eine große Rolle. Warum?

Als ich angefangen habe, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, haben mir viele gesagt: „Über diese Dinge ist doch schon alles erzählt worden.“ Mein Eindruck war aber ein anderer. Das kann einen ja auch zum Schreiben bringen, wenn das Außen nicht mit dem Innen zusammenpasst. Ich könnte jetzt auch weiter ausholen, nach USA, Polen schauen, aber ich finde es immer schwierig, wenn man als Autorin plötzlich Expertin wird, nur weil man sich über längere Zeit mit einem Thema beschäftigt. Die Recherche im MUVS (Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch; Anm.) in Wien war aber auf jeden Fall ein Anstoß.

Dort kann man u. a. in anonymen Akten nachlesen, wie Ärzte davon berichten, dass gerade die Politiker, die damals am Sonntag gegen die Fristenlösung auf die Straße gegangen sind, am Montagmorgen dann in ihrer Praxis standen, um für die minderjährige Tochter eine Abtreibung zu verlangen. Moral interessiert mich nicht, wenn sie nur als Zuckerguss daherkommt.

Es gibt Schriftsteller*innen, die schreiben pro Tag exakt eine Seite, andere arbeiten zwölf Stunden täglich. Wie schaut Ihre Schreibroutine aus?

Ich sabotiere mich gerne selbst und arbeite konsequent an einem anderen Text als an dem, der abgegeben werden soll. Bis es nicht mehr anders geht. Für den ersten Entwurf stehe ich meistens sehr früh auf, beginne so gegen fünf, sechs Uhr. Der Morgen ist für mich die einzige Zeit am Tag, wo alles noch so verschwommen sein darf, so unsicher. Alles ist noch so offen, auch ich selbst.

Mareike Fallwickl

Über die Wut und das Scheitern

Ihr dritter Roman „Die Wut, die bleibt“ ist 2022 erschienen und wurde bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne gebracht. ­Mareike Fallwickl im Interview über ihren Wunsch nach mehr weiblichen, nichtbinären und trans Schreibenden. Weiterlesen...

Als Autor*in wird man ständig öffentlich bewertet. Wie geht es Ihnen damit?

Ich bin noch nicht sicher, wie ich dem begegnen werde: Wahrscheinlich wie bei allen Dingen mit einer Mischung aus „eigentlich möchte ich von allen geliebt werden“ und kompletter Wurschtigkeit.

John Irving beginnt seine Romane stets mit dem letzten Satz. War Ihnen schon anfänglich klar, wie „Packerl“ ausgehen wird?

Leider nein. Mir würde es ehrlich gesagt schon reichen, wenn ich stets mit dem ersten Satz beginnen würde, das wäre schon ein Fortschritt.

Wann weiß man als Autor*in eigentlich, dass eine Geschichte zu Ende ist?

Ich glaube, man weiß es in Wahrheit gar nicht, aber man weiß, irgendwann muss man aufhören.

Ein neuer Roman, ein neues Stück oder etwas ganz anderes: Woran arbeiten Sie aktuell?

Momentan schreibe ich an einem Stück über Nicolae und Elena Ceaușescu, das die Form eines Walkthrough hat, also einer Anleitung, wie man durch Computerspiele kommt. Und im Jänner 2024 gibt es die Uraufführung meines zweiten Stücks „Über die Notwendigkeit, dass ein See verschwindet“ am Landestheater Linz.

Das ganze Interview finden Sie hier.

Zur Person: Anna Neata

Geboren 1987 in Oberndorf bei Salzburg. Studium der Film- und Theaterwissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2020 Bachelor-Abschluss Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Im selben Jahr Master-Studium der Sprachkunst u.a. bei Thomas Köck, Olga Grjasnowa, Anna Kim und Ferdinand Schmalz. Schreibt Prosa und Theatertexte. 2020 Gewinnerin des Hans Gratzer Stipendiums/Schauspielhaus Wien mit dem Stück „Oxytocin Baby“. Eingeladen zum Prager Theaterfestival für deutsche Sprache und zum Heidelberger Stückemarkt. Dramatiker*innenstipendium des BKA 2022 für den Stückentwurf „Walkthrough 89“.