Kay Voges’ steiler Weg nach oben
Vor einem Jahr ist das Raumschiff Volkstheater in Wien gelandet. Obwohl es einen holprigen Start hingelegt hat, mauserte sich das von Kay Voges geführte Theater zur spannendsten Bühne der Stadt, schreibt Theaterkritikerin Karin Cerny.
Sie müssen sich uns Kritiker*innen als moderne Sisyphos-Figur vorstellen. Scheinbar passiv sitzen wir im Publikum, um zu beurteilen, was da gerade auf der Bühne passiert. Was möchte die Regie uns erzählen? Wie schlägt sich das Ensemble? Was hat die Inszenierung mit dem Stück zu tun? Und, nicht zuletzt, wie viel Platz werde ich morgen in der Zeitung überhaupt haben, um all das auf eine Kritik einzudampfen, die möglichst gerecht, dabei aber auch pointiert und unterhaltsam ist?
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Es klingt vermessen, aber jede Inszenierung ist ein Stein, den wir hinaufrollen. Nicht weil es so anstrengend ist, sondern weil neben einer gehörigen Portion Sitzfleisch zu diesem Job auch eine nie versiegende Quelle an Begeisterungsfähigkeit gehört. Jedes Mal hofft man auf ein Wunder. Oder um mit Sisyphos zu sprechen: dass das Theater zu schweben beginnt – und man glücklich und verzaubert im Zuschauerraum sitzt. Sie können es auch naiv nennen. Oder unbelehrbar.
Dann allzu oft fällt der Stein der hohen Erwartungen ins Bodenlose. Warum ich das erzähle? Weil jede*r Theaterdirektor*in zwei Dinge triggert: Aufbruchsstimmung und Skepsis. Wir Kritiker*innen haben schon zu viel erlebt, um jeden Euphemismus zu glauben. Wir sind aber gleichzeitig zu sehr Bühnennarren, um nicht auf das Beste zu hoffen. Als die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler 2019 den deutschen Regisseur Kay Voges als neuen Volkstheaterdirektor aus dem Hut zauberte, war ich positiv gestimmt. Ich hatte in Berlin seine Inszenierung „Die Parallelwelt“ gesehen, ein Abend, der simultan an zwei Bühnen stattfand, die über Glasfaserkabel online verbunden waren.
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Ich war aber auch skeptisch, weil ich fand, dass die Ära von Anna Badora am Volkstheater unterbewertet blieb. Die Vorgängerin von Voges hatte viel Neues gewagt – und wurde nur an ihrer mittelmäßigen Quote gemessen.
Jetzt kam da der deutsche Regisseur, und es gab mehr Geld, die längst fällige Renovierung wurde umgesetzt und Voges hatte freie Hand, eine innovative Mischung aus Koproduktionshaus und Ensembletheater zu machen. Doch noch bevor er als Leiter des Volkstheaters antrat, zeigte er am Burgtheater „Dies Irae – Tag des Zorns“, einen seltsam verquasten Abend über die Apokalypse. Gefallen hat sich Voges mit dieser Inszenierung vor seiner Intendanz-Übernahme keinen getan.
Versteht der neue Intendant Wien und sein Publikum überhaupt? Ohne konservativ sein zu wollen, stellte sich diese Frage zwangsläufig. Kay Voges ist zu positiv, zu überschwänglich und zu unverstellt für diese Stadt. Ein grantiger Wiener wird garantiert keiner aus ihm. Und das ist auch gut so. Früher wäre das kein Thema gewesen, aber mittlerweile zum Glück schon: Voges gilt als Teamplayer, als jemand, der respektvoll mit seinen Mitarbeiter*innen umgeht. Ich finde, man merkt das. Trotz Pandemie und vielen Schließtagen ist die Stimmung am Volkstheater gut. Auch darum geht man gern hin. Dieser Funke der Euphorie und Menschlichkeit springt aufs Publikum über.
Die Pandemie war für Voges und sein Team noch verheerender als für vergleichbare Häuser. Die meisten seiner Akteure waren frisch in eine neue Stadt gezogen. Kaum strahlte das ehrwürdige Theater in renoviertem Glanz, musste es wegen Covid geschlossen werden. Kaum angekommen, senkte sich der Vorhang schon wieder. Das ist zermürbend. Es gehört viel Kraft dazu, ein Theater unter diesen erschwerten Bedingungen zusammenzuhalten.
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Wenn Theaterdirektor*innen von ihrem tollen Ensemble schwärmen, ist das eine Berufskrankheit. Man tut gut daran, skeptisch zu bleiben. Im Wiener Volkstheater zeigt sich allerdings gerade, dass Kay Voges tatsächlich recht haben könnte. Sein Ensemble ist eine Wucht. In der Sprechoper „humanistää!“ nach Ernst Jandl brillieren die Schauspieler*innen, obwohl sie die meiste Zeit in nachkriegsgraue Anzüge gezwängt sind und Gesichtsmasken tragen. Erstmals inszeniert die deutsche Regisseurin Claudia Bauer in Wien, die für ihre aberwitzige Körperarbeit und ihren schrägen Humor bekannt ist. Bauers forcierter Slapstick passt perfekt zur abgründigen Lyrik von Jandl. Prompt wurde die Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Erstmals seit 1970 ist das Volkstheater bei dieser Leistungsschau wieder dabei.
Zu den Höhepunkten der Inszenierung gehört ein Monolog des in Linz geborenen Schauspielers Samouil Stoyanov, der den Alltagsfaschismus aus Kinderperspektive im „deutschen gedicht“ entlarvt – und dabei ebenso gefährlich wie geschmeidig klingt. Stoyanov ist der Falco im Ensemble, er rockt das Volkstheater. Nick Romeo Reimann verbiegt sich elegant, er ist der Dandy im Team.
Aber dann gibt es auch noch von Gerhart Hauptmann „Einsame Menschen“, eine glasklare Inszenierung, in der jedes Wort wie ein Messer schneidet. Anke Zillich brilliert als verhärmte Mutter – wenig später zeigt sie in der Revue „Ach, Sisi“ ihr komödiantisches Talent. Die Zillich hat Präsenz. So etwas kann man nicht lernen. Und dann ist da natürlich noch Andreas Beck, ein Kraftzentrum des neuen Volkstheaters, von dem ich mir in „Ach, Sisi“ auch gern das Wiener Verkehrsnetz erklären lasse.
Ich mag, dass ich nie weiß, was mich im Volkstheater erwartet. Im sperrigen, aber auch sehr lustigen Abend der New Yorker Off-Gruppe Nature Theater of Oklahoma saßen hinter mir ein paar ältere Frauen, die sich köstlich amüsierten und überrascht waren, dass das neue Volkstheater doch etwas für sie sein könnte. Ich finde cool, wenn Hipster zu den rätselhaften Sci-Fi-Arbeiten von Susanne Kennedy pilgern; ich mag, dass Popmusik einen größeren Stellenwert hat.
Mit dem Volkstheater ist ein Raumschiff in Wien gelandet, das Schwung in die angestaubte Bühnenlandschaft bringt. Ich rolle meinen Stein jedenfalls jetzt wieder lieber den Berg hinauf als sonst. Sicher, das ist ein Wohlstandsproblem, das Sie nicht weiter kümmern muss. Aber es schadet ja auch nicht, wenn Theaterkritiker*innen keine griesgrämigen alten Leute sind, die ständig davon schwärmen, dass früher alles viel, viel besser gewesen ist. Stimmt nicht, das kann ich Ihnen versichern.
The Time is now! Am besten, Sie überzeugen sich selbst.