Es ist alles sehr kompliziert. Dieses von den Medien erst verzerrend gekürzte und dann dem glücklosen ehemaligen Bundes­kanzler Fred Sinowatz zu­gewiesene Zitat trifft wahrscheinlich auf jeden Lebensbereich zu. Ganz sicher lässt sich damit aber zusammenfassen, welche Motivlagen das führende Personal in Henrik Ibsens „Die Stützen der Gesellschaft“ zu Handlungsimpulsen animieren.

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Im neoliberalen Milieu rund um die Hauptfigur Karsten Bernick, Eigentümer einer Werft, Ehemann und Vater eines Sohnes, treffen private Verfehlungen aus der Vergangenheit auf aktuelle geschäftliche Wirrnisse rund um den Bau einer visionären „Social City“. Von deren Realisierung hängt das wirtschaftliche Fortkommen der Familie Bernick ebenso ab wie die Aufrechterhaltung des sozialen Prestiges, welches wiederum an das gesellschaftliche Ansehen gekoppelt ist. „Alles eben sehr kompliziert“, meint Regisseur David Bösch, der „Die Stützen der Gesellschaft“ als zweiten Teil seiner politischen Ibsen-Trilogie im Theater in der Josefstadt konzipiert und dafür eine Neufassung zu Papier gebracht hat.

Die Grenzen sprengen

„Es ist ein bisschen wie bei ‚House of Cards‘, wo man auch eine merkwürdige emotionale Haltung zu den Handelnden einnimmt“, erklärt David Bösch. „Karsten Bernick will mit der ‚Social City‘ ein Projekt realisieren, das die Grenzen des Bisherigen sprengt. Und um viel zu schaffen, muss man auch bereit sein, viel zu verlieren. Die Frage, was ein Menschenleben wert ist, wenn es um das Glück von Tausenden geht, ist eine interessante, die sich auf viele moralische Diskurse unserer Gegenwart anwenden lässt.“

Ferdinand von Schirach hat im Theaterstück „Terror“ sogar das Publikum darüber abstimmen lassen, ob es rechtens sei, ein von Terroristen gekapertes Flugzeug abzuschießen, ehe es in eine riesige Menschenmenge gesteuert werden kann. Natürlich wolle man selber nicht handeln wie Karsten Bernick, der anderer Menschen Leben riskiert. „Allerdings hat er mit dem Bau von ‚Social City‘ auch eine humanistische Vision und muss jeden Tag Entscheidungen treffen.“ Fazit: „Es gibt im Disput um ethische Grenzen keine eindeutigen Antworten.“

David Bösch Raphael von Bargen Die Stützen der Gesellschaft
Der Schauspieler Raphael von Bargen und der Regisseur David Bösch beim BÜHNE-Fotoshooting.

Foto: David Payr

Wir sind alle Karsten Bernick

Raphael von Bargen, der diese widersprüchliche Figur verkörpern soll, wird noch deutlicher. „Es ist immer schwierig, in einer von Nihilismus dominierten Welt einen moralischen Kompass anzulegen. Wir wollen alle den Regenwald retten, aber trotzdem nicht auf unser Smartphone verzichten und weiterhin Avocados im Supermarkt kaufen. Was potenzielle Konsequenzen unseres Handelns betrifft, haben wir alle mannigfaltige Verdrängungsmechanismen. Für mich sehr interessante Fragen lauten: Was rechtfertigt eine Lüge? Und was bedeutet Verantwortung? Nicht weniger spannend finde ich auch den altruistischen Aspekt der geplanten ‚Social City‘. Darf ich eine solche, das Leben vieler Menschen verbessernde, Musterstadt bauen und gleichzeitig Geld damit verdienen? Wenn Bill Gates verkündet, bestimmte Krankheiten in Afrika endgültig ausrotten zu wollen, ist der erste Impuls vieler, dass ihm das wohl Milliardengewinne brächte. Selbst wenn das so stimmen würde, wäre es deshalb schlechter, wenn er es am Ende geschafft hätte?“ 

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Social City
Silvia Meisterle und Raphael von Bargen stoßen als Nora und Karsten Bernick auf die CO₂-neutrale „Social City“ an, ehe die Dinge unaufhaltsam aus dem Ruder laufen.

Foto: Moritz Schell

Ihm sei es als Schauspieler wichtig, ebendiese Ambivalenzen, die in Führungspersönlichkeiten steckten, sichtbar zu machen und gleichzeitig deren einfache Bewertbarkeit in Frage zu stellen. „Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Karsten Bernick. Selbst wenn du dich nach Tibet auf einen Berg zurückziehst, ist die Kohle, die dich im Flugzeug da hingebracht hat, sicherlich auch nicht moralisch sauber. Wir plädieren für Umweltschutz, verschicken aber jederzeit E-Mails, streamen, ohne zu bedenken, wie viel Energie Server verbrauchen. Sobald wir in ein Auto steigen oder unser Telefon benutzen, gehen wir moralische Kompromisse ein.“ Er halte Karsten Bernick für die Personifizierung einer toxischen Gesellschaft, die diese traumatisierenden Wertekonflikte nicht diskutieren kann oder will.

Ibsens Kraft besteht aus Situationen, Konflikten und Zuspitzungen, wodurch man ihn gut in die Moderne holen kann, ohne billig zu sein.

Regisseur David Bösch über Schriftsteller Henrik Ibsen

Ums Leben strampeln 

„Ich habe mir Raphael für diese Rolle gewünscht, weil er es schafft, einerseits in die Manie zu gehen und auf der anderen Seite einladend, freundlich und nahbar zu sein. Und beides braucht diese Figur auch.“ Raphael von Bargen wiederum erklärt, dass er seit langem den Wunsch in sich trage, mit David Bösch zu arbeiten, was bisher nicht geklappt hat, obwohl man sich seit Jugendtagen kennt. Nun aber ist es so weit. Endlich. 

Woher stammt Ihre berufliche Obsession für Henrik Ibsen, dass Sie ihm eine Trilogie und viel Lebenszeit widmen, Herr Bösch? „Seine Geschichten haben Suspense und eine Spannungskurve, sie lassen sich auf interessante Art für unsere heutige Zeit adaptieren. Ibsens Kraft besteht eher aus Situationen, Konflikten und Zuspitzungen, wodurch man ihn gut in die Moderne holen kann, ohne billig zu sein. Der zweite Punkt ist, dass die Figuren bei Ibsen sowohl mit ihrer Vergangenheit als auch mit ihrer Zukunft konfrontiert werden und dadurch so stark unter Druck geraten, dass sie um ihr Leben strampeln müssen. Beides ineinander verschränkt findet man nicht oft.“

Zur Person: David Bösch

Studium der Theater- und Filmregie. Zu seinen wichtigsten Stationen zählen Residenztheater München, Deutsches Theater Berlin, Thalia Theater Hamburg, Salzburger Fest- spiele, Burgtheater, Bayerische Staatsoper München, Staatsoper Hamburg, Staatsoper Berlin, Royal Opera House Covent Garden, Opéra de Lyon und Semperoper Dresden. 2021 wurde seine Graphic Opera „Weiße Rose“ (arte) auf dem Golden Prague International Television Festival ausgezeichnet. David Bösch gilt als einer der führenden Regisseure für Sprechtheater und Oper seiner Generation. Nächstes Projekt: die Verfilmung von „Adern“, jenes Stücks von Lisa Wentz, das er heuer im Akademietheater inszenierte.

Sprachbilder und Bildsprache 

Dass er mit dem Schreiben einer aktualisierten Fassung seinem Schriftstelleridol Clemens J. Setz einen Schritt nähergekommen sei, muss er schmunzelnd dementieren. „Nein, er bleibt in unerreichbaren Sphären. ‚Schriftsteller‘ finde ich in meinem Fall zu hoch gegriffen, eher bin ich ein Bearbeiter. Bei Ibsen funktioniert das sehr gut, weil er von einer Grundstruktur lebt, in die man buchstäblich reingreifen kann. Ich habe das für mich entdeckt, es fasziniert mich, und ich möchte es auch gerne weitermachen.“ 

Raphael von Bargen indes hat seine zweite Leidenschaft, die Fotografie, derzeit ad acta gelegt. „Das ist leider ziemlich eingeschlafen“, meint der Absolvent eines Annie-Leibovitz-Workshops, „wobei ich überlege, ob ich wieder damit starte.“

Eisschwimmen mit Raphael von Bargen

Andere panieren am Sonntagvormittag ihr Schnitzel. Raphael von Bargen spielt in der Lobau zuerst Saxofon, und dann geht er eisschwimmen. Ein Wochenendspaziergang mit dem großartigen Josefstadt-Star. Weiterlesen...

Ein Projekt schwebe ihm bereits vor, erfordere allerdings sehr teures lichtsensibles Equipment. „Ich würde gerne im Theater fotografieren, und zwar das, was nur ein Schauspieler kennt, nämlich die Übergänge von Auftritten, diesen Schritt vom Privaten auf die Bühne. Es gibt Kollegen, die blödeln bis zur letzten Sekunde und sind dann extrem präzise. Andere – und zu denen gehöre ich auch – machen Atemübungen oder pumpen sich innerlich auf, was beides meistens nicht funktioniert. Diese Magie hinter der Bühne festzuhalten ist extrem schwer, weil es finster ist und man praktisch bei Kerzenlicht arbeiten müsste.“

Zur Person: Raphael von Bargen

Geboren in Hamburg, studierte er am Max Reinhardt Seminar in Wien. Er wurde von dort direkt ans Burgtheater engagiert, wo er u. a. in „Der Entertainer“ und „Das Maß der Dinge“ brillierte. 2006/07 wechselte er ans Volkstheater, spielte Hauptrollen in „Cabaret“, „Dogville“ oder „Peer Gynt“. Von Bargen kam 2016/17 fix ins Ensemble des ­Theaters in der Josefstadt, wo er aktuell in fünf Produktio­nen zu sehen ist. 

Zu den Spielterminen von "Die Stützen der Gesellschaft" im Theater in der Josefstadt!