Irem Gökçen: Sich Raum nehmen, um alles zu geben
In ihrer ersten Saison als festes Ensemblemitglied bespielte Irem Gökçen bereits den Zuschauerraum, steckte in einem Teletubby-Kostüm und verhandelte wichtige Fragen zum Thema Identität. Stets mit viel Neugier und einer großen Lust am Ausprobieren.
„Ich kann gerne noch irgendwo raufklettern“, sagt Irem Gökçen am Ende unseres Fotoshootings und lacht. Eine Ansage, die, wenn man die Schauspielerin ein wenig kennt, aus zweierlei Gründen nicht verwundert. Erstens: 30 Minuten Fotoshooting sind für ein Energiebündel wie die 1998 geborene Wahl-Wienerin gar nichts. Zweitens: Wie sie ein wenig später im Interview betonen wird, liebt sie an ihrem Arbeitsplatz, dem Wiener Volkstheater, unter anderem die Vielzahl an Möglichkeiten, immer wieder neue Räume mit ungewöhnlichen Blickwinkeln erforschen zu dürfen. „Man kann hier ganz unterschiedliche Arten von Theater ausprobieren und auch mal frech sein“, sprudelt es aus ihr heraus.
Das mit den neuen Räumen ist natürlich vor allem metaphorisch gemeint. Aber nicht nur, denn als ebenso aufmüpfige wie kecke Clarice in Antonio Latellas Inszenierung des Komödienklassikers „Der Diener zweier Herren“ ist die in Istanbul geborene Schauspielerin unter anderem dazu aufgefordert, sich in den Zuschauerraum zu begeben und von dort aus weiterzuspielen.
Hauptsache vielschichtig
Der italienische Regisseur überzeugte die Schauspielerin, die seit dieser Spielzeit fest am Volkstheater engagiert ist, nicht nur mit seiner unbändigen Freude an vielschichtiger Komödie, sondern auch mit seinen Kochkünsten, die sich ebenfalls in Vielschichtigkeit ausdrückten.
„Gemeinsam mit seinem Team hat er hin und wieder Lasagne und Pasta für uns gemacht“, erinnert sich die Schauspielerin, mit genau jenem Funkeln in den Augen, das nur Lasagne auslösen kann – und gutes, vielschichtiges Theater.
„In den Proben durften wir viel improvisieren, und ich hatte das Gefühl, dass ich mich so richtig freispielen konnte. Es gab ein paar Dinge, die ich für mich geknackt habe – vor allem, als es darum ging, im Moment zu sein und mir den Raum zu nehmen“, resümiert Irem Gökçen.
Dass sich Antonio Latellas Inszenierung teilweise als theatrales Zirkeltraining entpuppte, hätte sie ebenfalls dazu gebracht, neue Seiten an sich zu entdecken, fügt die Schauspielerin lachend hinzu. „Ich habe mich teilweise körperlich so sehr verausgabt, dass ich nicht mehr nachgedacht, sondern nur noch aus dem Moment geschöpft habe."
Wer darf wen spielen?
Wer im Mai ins Volkstheater kommt, hat außerdem die Möglichkeit, Irem Gökçen in den Stücken „Apokalypse Miau" und die „Unbekannte aus der Seine" zu erleben. An die Produktion „Die Cousinen“, die nach etwas mehr als zwei Saisonen nun abgespielt ist, erinnert sie sich gerne zurück.„Wir haben das Stück gemeinsam mit der Regisseurin Laura N. Junghanns und der Autorin Nava Ebrahimi entwickelt – eine ganz neue Erfahrung für mich", sagt sie. Außerdem hätte sie das Stück, das auf unterschiedlichen Ebenen die Themen Identität und Repräsentation verhandelt, auch persönlich sehr beschäftigt, so Gökçen. Sie setzt nach:
„Drei Schauspielerinnen bewerben sich für die Rolle des Cousins, und es geht um die Frage, wer wen spielen darf. Diese Rolle von meinem Ich zu trennen und eine Figur zu schaffen, die mir nahe ist, die aber trotzdem nicht deckungsgleich mit mir ist, fand ich schauspielerisch sehr interessant.“
Mir wurde mehrmals gesagt, dass ich hier vor 20 Jahren keine Chance gehabt hätte.
Irem Gökçen, Schauspielerin
Wenn es um das Thema Diversität im Theaterbetrieb geht, sei definitiv noch viel Luft nach oben, findet die Schauspielerin klare Worte. Denn erst ein diverses Ensemble und Publikum mache das Theater,
das ja als lebendigste Kunstform überhaupt gilt, erst so richtig lebendig, ist Irem Gökçen überzeugt. „Mir wurde mehrmals gesagt, dass ich hier vor 20 Jahren keine Chance gehabt hätte“, sagt sie und ergänzt, dass sie sich von solchen Sätzen jedoch keinesfalls die Motivation nehmen lassen möchte. Ganz im Gegenteil.
„Als Türkin repräsentiere ich einen wichtigen Teil der Gesellschaft, und ich hoffe, dass sich durch mich viele Menschen repräsentiert und
angesprochen fühlen. Meine türkischen Wurzeln sind auf jeden Fall ein wichtiger Teil von mir, als Schauspielerin ist es mir trotzdem wichtig, in unterschiedlichste Rollen schlüpfen zu dürfen. Was es auf jeden Fall bräuchte, sind mehr Vorbilder."
Zur Person: Irem Gökçen
wurde 1998 in Istanbul geboren und studierte zunächst dort an der Mimar Sinan Universität der Schönen Künste, dann an der Kunstuniversität Graz. Vor ihrem Studium spielte sie bereits am Stadttheater Istanbul. In der Spielzeit 22/23 war Irem Gökçen im Rahmen einer Kooperation mit der Kunstuniversität Graz bereits am Volkstheater zu sehen. Seit der Spielzeit 23/24 ist sie festes Ensemblemitglied.
Mit dem Taschengeld nach Wien
Die wären auch hilfreich gewesen, als sie sich als Jugendliche folgende weichenstellende Frage stellte: Wenn Schauspiel, dann wo? „Als Schülerin in Istanbul konnte ich es mir überhaupt nicht vorstellen, hier vorzusprechen“, erinnert sie sich. Deshalb studierte sie nach ihrem Abschluss an der deutschen Schule zunächst an der Mimar Sinan Universität der Schönen Künste in Istanbul. 2019 wechselte sie an die Kunstuniversität Graz.
„In Österreich und Deutschland steht das Ensemble viel mehr im Mittelpunkt, man entwickelt Stücke gemeinsam und kann auch politisch mehr ausprobieren. Das hat mich sehr gereizt.“ Nachdem sie sich in der Spielzeit 2022/23 im Rahmen einer Kooperation mit der KUG bereits am Volkstheater ausprobieren konnte, wurde sie in der darauffolgenden Saison Ensemblemitglied.
Das Haus am Arthur-Schnitzler-Platz kennt sie jedoch schon viel länger „Ich glaube, dass ich 2016 zum ersten Mal hier war. Wann immer es ging, bin ich damals mit meinem Taschengeld nach Wien gekommen und habe mir hier Theaterstücke angeschaut“, erzählt sie.
Ob sie nicht echt noch irgendwo raufklettern soll? Irem Gökçen schaut in die Runde und realisiert vielleicht noch gar nicht so richtig, dass sie karrieretechnisch bereits ganz nach oben unterwegs ist.