Wie geht es Ihnen?

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Ist das jetzt schon eine Interviewfrage?

Schon.

Aha. Also: Mir geht es richtig gut. Ich habe eine Zeit gebraucht, um diesen Zustand zu erreichen, aber jetzt – vielleicht gibt es auch einen Konnex zur „Menschenfeind“-Inszenierung – geht es mir umfassend gut.

Was erwarten Sie sich von diesem Interview?

Gerne möchte ich mich auf eine leichte, entspannte, vielleicht auch geistreich-witzige Art verabschieden.

Was machen Sie diesen Sommer?

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Es wird ein besonderer Sommer, weil ab dem 1. September plötzlich keine neue Spielzeit mehr wartet. Ich habe jetzt 13 Jahre nonstop ein Theater geleitet. Davon bin ich müde. Ich brauche Entspannung und frische Energie im System. Ich würde gerne hineingleiten in eine Zeit der Ruhe, des Reisens, des Lesens, des Nachdenkens, und diese Zeit soll offen sein nach hinten hinaus. Mindestens acht Monate kein Theater. Und falls Sie fragen: Ja, es gibt Anfragen für Projekte aus ganz Europa, aber jetzt muss erst einmal Pause sein.

Wie darf ich mir das vorstellen? Letzter Tag, der Direktor schmeißt ein Fest, und dann steigt er auf seinen E-Scooter und ist weg …

E-Scooter ist mir zu gefährlich, ich präferiere mein Fahrrad. Ich werde am letzten Tag mein Büro abschließen, den Schlüssel beim Portier abgeben und bin dann weg. Sentimentale Moves wie Abschiedsfeste sind nicht so mein Ding.

… und fahren dann direkt zum Flughafen und dann nach Shanghai, wo Sie laut Presse einen Job haben werden.

Ja, die Wiener Presse weiß immer extrem gut Bescheid! Und steht leider nur daneben statt mittendrin … Das Burgtheater hat im Juni tatsächlich sein zweites Shanghai-Gastspiel in dieser Spielzeit nämlich mit meiner Inszenierung der „Geschlossenen Gesellschaft“ – eine Ehre für das Burgtheater!

Was sehen Sie, wenn Sie nach vorne schauen, im Rückspiegel?

Ich schaue nach vorne, zu dem, was kommt. Was hinter mir liegt, taugt nur als Fundus, um Geschichten zu erzählen – das ist ja mein Beruf. Vergangenes Erlebtes, Erinnerung, Erfahrungen – das wird wieder verwoben in den Verlauf des Lebens und der theatralischen Arbeit. Auch hier: keine Sentimentalität! In dem Schrank hier stehen sämtliche Programmhefte aus meinen Jahren am Residenztheater, bei den Salzburger Festspielen und nun vom Burgtheater – faktische Auflistungen aller Projekte und Besetzungen. Wenn ich mir das anschaue, realisiere ich, mit wie vielen Menschen ich zusammengearbeitet habe, wie viel da durch meinen Kopf gegangen ist und wie immens viel wir alle miteinander erschaffen haben. Davon bin ich beeindruckt und das begeistert mich. Vielfältigkeit, Klarheit in der Haltung, Internationalität, Diversität. Da ist so viel Gewagtes, Gutes und Spannendes zusammengekommen, auf das ich wirklich stolz bin. Das ist der Rückspiegel. Aber vorne spielt die Musik.

Wann merkt man als Direktor, dass es vorbei ist?

„Es ist vorbei“ klingt wie das Ende eines Duells in einem Western … Hatte ich nicht, dieses Gefühl. Es gibt in mir nur ein völliges Unverständnis darüber, dass mir bis heute niemand eine klare, verstehbare Begründung geben konnte, warum das nicht mehr gewollt wurde, was wir hier machen.

Was war das größte Problem: das Publikum, die Politik, Sie selbst?

Lassen Sie uns ganz am Anfang beginnen: Wir hatten kein richtiges Vorbereitungsjahr für die Zeit zwischen dem Residenztheater und dem Burgtheater. Wir dachten, das geht sich aus, aber in Wirklichkeit ist alles unter zwei Jahren viel zu kurz, um ein so großes Haus wie dieses neu aufzusetzen. Im Herbst 2019 legten wir einen fulminanten Start hin. Dann kamen die ersten Produktionen, die nicht so gut liefen. Das ist normal, in solchen Phasen lernt man sich besser kennen, wächst zusammen. Ein gemeinsames Immunsystem entwickelt sich. So funktioniert Theater: Man geht gestärkt hervor, kann gemeinsam Veränderungen angehen. Aber plötzlich waren wir mit völlig unerwarteten Situationen konfrontiert: Corona, diese epische Pandemie, dann der dilettantische Direktionswechsel des Ministeriums und schließlich: der Fall Teichtmeister! Zwar haben wir das überstanden und gemeistert – aber wir hatten nicht eine einzige Spielzeit, in der wir einfach nur unsere Theaterarbeit machen und weitere Veränderungen anstoßen konnten. Das ist an diesem Haus ob seiner Größe und seiner Strukturen eh sehr, sehr schwierig. Dafür ist uns trotzdem verdammt viel gelungen.

Haben Sie sich zu irgendeiner Zeit als Direktor geliebt gefühlt?

Sagen wir so: Ich habe mich hier nicht willkommen gefühlt. Dass man sich die Gunst des Publikums erarbeiten muss, ist klar, und das hat auch gut funktioniert. Das merke ich an den Rückmeldungen, an den Mails, den Gesprächen auf der Straße. Ich habe viele Menschen mit dem begeistert, was wir hier gemacht haben. Aber ich bin nicht umsonst dieser Stadt hier 26 Jahre aus dem Weg gegangen. Das war eine bewusste Entscheidung, das habe ich vermutlich auch ausgestrahlt, und dann war ich dumm genug, um wie ein Schaf in dieses Wolfsrudel zurückzukommen und zu sagen: Hey, da bin ich wieder und finde es schön, jetzt ein paar Jahre hier in Wien mit euch zu arbeiten.

Was war Ihr größeres Problem: das Publikum, die Politik, Sie selbst?

Na geh …

Man tendiert hier dazu, das auch gleich zu bestrafen. Aber ich bin jetzt okay damit, muss über meine Blödheit selber lachen. Was habe ich denn gedacht? In dieser ewig gleichen Blase nehmen sich viele so furchtbar wichtig, kreisen einfältig und selbstgefällig um sich selbst. Man ist missgünstig, schadenfroh – wer ausbricht, wird verachtet, wer zurückkommt, wird noch mehr verachtet. Das ist meine subjektive Erfahrung – ich will aber auch sagen, dass man hier vom Publikum, von den Leuten also, für die man Theater macht, auch wirklich enorm viel zurückbekommt an Wertschätzung, an Stolz und an Freude. Diese positive Erfahrung habe ich durchaus genauso gemacht.

Es ist ja nicht so kompliziert: Der Burgtheaterdirektor ist auch so was wie der Theater-Bürgermeister von Wien. 

(Lacht.) Ja, ich gestehe: Es gibt einen gewissen Auffassungsunterschied zwischen dem, was erwartet wurde, und dem, wie ich meine Rolle verstanden habe. Es geht diesem Job eine jahrhundertealte Erwartungstradition voraus. Ich habe das auch versucht, dieses „Habe die Ehre, Herr Direktor“-Spiel, aber ich kann das einfach nicht. Man muss Lust darauf haben, auf diese Unterwürfigkeit der Leute hier. Peymann hat dieses Spiel perfekt beherrscht.

Hatten Sie niemanden, der Ihnen Wien erklärt hat? Hier trifft man sich auch mit Menschen, die man nicht mag, und jeder weiß, dass einem der andere unsympathisch ist. Dann lügt man sich ein bisserl an, und alles ist gut für eine Zeit, weil man sich gegenseitig die Aufwartung gemacht hat. Kostet Zeit, spart aber Kraft auf der Langstrecke.

Ja. Ich hab davon gehört (lacht), und in der Theorie verstehe ich das auch. Mich haben viele gewarnt. Viele haben gesagt: Du musst so sein oder so. Aber ich habe – vielleicht auch dummerweise – nicht auf sie gehört. Da komme ich halt aus meiner Haut nicht heraus. Aber was ist so eine Sache, die mir vorgeworfen wird?

Zur Person: Martin Kušej, 63

Seine ersten Inszenierungen machte Kušej in Graz, er führte Regie in Berlin, Stuttgart, Hamburg, London, Paris, Amsterdam, Zürich, Turin, Madrid, Ljubljana und vielen anderen Orten. Von 2011 bis 2019 war der 1961 in Kärnten geborene Martin Kušej Intendant des Residenztheaters in München. Seit der Spielzeit 2019/20 ist er Künstlerischer Direktor des Burgtheaters, seine Amtszeit endet mit dieser Saison.

Sie sollen laut Medien bei einem Empfang gesagt haben: „Man hat mir geraten, mich von meiner besten Seite zu zeigen“, und dann haben Sie sich umgedreht und Ihr Hinterteil gezeigt.

Stimmt, ich habe den Satz gesagt und mich dann zur Seite gedreht – einmal links und einmal rechts. Ich erinnere mich genau. Aber warum sollte ich meinen Rücken oder gar meinen Hintern präsentieren? Das wäre dumm und kontraproduktiv und entspricht überhaupt nicht meinem Naturell. Es ist unglaublich und bezeichnend, was daraus konstruiert wird. Dieses Ohnmachtsgefühl hatte ich sehr oft. Ich habe an die Öffentlichkeit einen klaren Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch, und beides wird hier in Wien massiv mit den Füßen getreten. Das finde ich schlimm. Ich habe so viel schlecht recherchiertes Zeugs in den vergangenen Jahren gelesen. Ich bin fassungslos. Ich habe kein Problem mit Kritik, aber ich habe ein Problem damit, wenn gelogen wird.

Es gibt einige Theaterkritiker*innen hier in der Stadt, die Ihnen in tiefster Abneigung verbunden sind. Was haben Sie denen angetan? Und: Frustriert es nicht, wenn man den Pressespiegel in der Früh bekommt und sich dort die Watschen abholen muss?

Ich lese keine Pressespiegel. Ich lese auch keine Kritiken. Dummerweise wird mir das, was da so manchmal zusammengeschmiert wird, von unbedarften Freunden zugeschickt, daher kenne ich die schlimmsten Geschichten.

Sind Kritiken nicht auch eine Orientierungshilfe? Eine Einordnung?

Natürlich, wenn das auf einem gewissen Niveau und mit Respekt abläuft – kein Problem. Es sind aber nur subjektive Wahrnehmungen, die hier auch gerne mal jenseits der Gürtellinie geschrieben werden. Noch dazu von Wichtigtuern, die nichts als Speichellecker sind und mit ihren Medien unaufhaltsam in die komplette Bedeutungslosigkeit steuern. Ich habe kein Problem mit Kritik, mit Menschen, die meine Inszenierungen nicht mögen. Ich habe ein Problem damit, wenn mit falschen Behauptungen oder absurden Einordnungen Schlagzeilen für bessere Auflagen generiert werden oder man meint, damit Kulturpolitik machen zu können – und genau das ist eine Spezialität hier in Wien.

Woher nehmen Sie Ihr Ego? Ich bewundere das. Wie Sie da im Buhsturm stehen und daraus offenbar Energie ziehen.

Schon als Jugendlicher habe ich Künstler des Wiener Aktionismus bewundert. Auch van Gogh, Francis Bacon oder Schriftsteller, deren Arbeiten verteufelt wurden. Henrik Ibsen, Schönberg, Berg – das 20. Jahrhundert ist voller Künstler, die für ihre Kunst und ihre Haltungen angefeindet wurden. Ich bin ursprünglich ans Theater gegangen, um mein Ding durchzuziehen. Es macht wirklich nicht immer Spaß, wenn man mit Widerständen und Attacken konfrontiert wird und mit Ablehnung und Anfeindungen umgehen muss. Rasch entsteht dann ein falscher Eindruck, ein falsches Bild wird kolportiert. Dinge, die misslingen, werden einem genüsslich um die Ohren gehauen. Theater ist lebendig, und man braucht ein Publikum, das damit auch umgehen, das einordnen kann. Das grundsätzliche Ziel wäre: Kommt ins Theater, weil da passiert etwas, da geht was ab, da bewegt sich etwas, und wir arbeiten gemeinsam an der Veränderung der Realität, an unserem Leben. Ich nehme mir vor, demnächst, in meiner Auszeit, auch darüber nachzudenken, wo die Zukunft des Theaters sein könnte. Wenn wir nicht sehr aufpassen, ist das Theater in Gefahr, sich selbst abzuschaffen. Das beschäftigt viele von uns – viele kreisen um sich selbst und verlieren völlig den Bezug zu den Menschen, für die sie eigentlich arbeiten sollten. Vielleicht komme ich zu einer Lösung und sehe dann ein Licht am Horizont (lacht). Aber ich hätte auch noch andere Ideen, was ich machen kann.

Hätten Sie nicht die vergangenen Jahre Zeit gehabt, darüber nachzudenken?

Natürlich reflektieren wir laufend unsere Arbeit, wir hatten Veränderungen angestoßen und uns noch einiges vorgenommen. Aber als Leiter einer Institution wie dieser hier ist man an gewisse Spielregeln gebunden: etwa den großen Erwartungen der Bundestheater-Holding oder des Bundestheater­organisationsgesetzes nachzukommen. Viele Bühnen haben, gerade in der Zeit nach den Lockdowns, immer mal einen Schließtag gehabt. Das geht im Burgtheater nicht, denn wir müssen täglich spielen! In Zeiten vieler Krankmeldungen – manchmal mit bis zu vier Umbesetzungen in einer Vorstellung – war das eine enorme Kraftanstrengung für alle im Haus. Wir haben unseren Auftrag trotzdem sehr gut erfüllt und – wie ich vorher schon gesagt habe – auch viele Dinge vorangetrieben. Ganz ohne Quote haben wir die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen zum Thema gemacht und den Anteil an weiblichen Regien auf durchschnittlich 42 Prozent gebracht. Wir haben erste wesentliche Schritte zu einem diverseren Ensemble gemacht. Über all diesen Herausforderungen war es aber nicht oft möglich, auch noch ganz grundsätzlich über die Zukunft des Theaters nachzudenken. Das werde ich jetzt machen, und zwar ohne den ganzen Apparat.

Haben Sie sich hier in Wien als Direktor je geliebt gefühlt?

Wie verrückt machen Sie die verrückten Zeiten, in denen wir gerade leben?

„Verrückt machen“ und „verrückte Zeiten“, das sind mir fast zu schwache Ausdrücke. Erstens machen mir die Zeiten Angst, und zweitens sind sie gefährlich. Ich merke, dass es vielen Menschen so geht … und ich bin auch wirklich besorgt und fassungslos ob der eigenen Ohnmacht diesem Zustand gegenüber. Man erlebt politische Mechanismen und Vorgänge, die in eine ganz klare Richtung weisen – und man ist ratlos, warum dagegen nichts unternommen wird.

Die Lösung wäre doch: weniger jammern, weniger entsetzt auf die Schlange schauen und ins Tun kommen.

Richtig. Wir haben mit unserem Slogan „Aufwachen, bevor es wieder finster wird“ versucht, ein klares Zeichen zu setzen. Ich habe gestern das Buch von Karl Popper „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ gelesen und stimme dem Popper’schen Toleranzparadoxon völlig zu, das sagt: Es gibt keine Toleranz für etwas, das intolerant ist, und dass die Gesellschaft gegen die Angriffe der Intoleranten verteidigt werden muss. Das muss man sich sehr, sehr zu Herzen nehmen. Fertig.

Sind Sie ein besserer Regisseur oder ein besserer Hausmeister?

Ich bin ein besserer Regisseur. Für einen superguten Intendanten müsste ich bessere Managementqualitäten haben. Als Direktor brauchst du eine Elefantenhaut, denn man ist für alles verantwortlich, auch für die Dinge, für die man gar nichts kann. Ich habe Menschen mit hohen Erwartungen eingeladen, hier am Burgtheater zu arbeiten, habe ihnen das Haus zu Füßen gelegt, ihnen tolle finanzielle Mittel gegeben, und trotzdem verpufft das manchmal alles in mediokren Inszenierungen. Das tut weh.

Wie ist es, Martin Kušej zu sein?

Ich finde mein Leben schön und megacool, echt großartig, es passiert so viel, es ist so aufregend, und ich bin jeden Tag dafür dankbar. Ich würde wohl, auch was das Burgtheater betrifft, nicht sehr viel anders machen. Klar, Fehler passieren, man muss daraus lernen – die Chance, das unter Beweis zu stellen, hat es nicht gegeben –, und so schaue ich begeistert, verwundert, verärgert, verliebt, verletzt, aber vor allem unglaublich stolz auf die Zeit hier zurück.

Gibt es einen Lebensspruch von Ihnen? So wie: Von einem Ochsen kann man nur Rindfleisch erwarten …

Ich bleibe bei den Rindviechern (lacht): Kuah hin. Kaibl a hin!

Was für ein schönes Schlusswort.