Freibrief von Julya Rabinowich: Oh Muse, was treibst du so?
Ich habe so meine Verdachtsmomente, du Verlotterte – treibst dich nächtelang irgendwo herum. Klar ist nur: bei mir nicht!
Dieser Brief sollte ein Liebesbrief werden, aber – wie mit fast jeder Liebe – mischt sich hier auch etwas Wut und Eifersucht dazu. Sogar Bitternis. Was nämlich, so frage ich mich, was zum Teufel treibst du, oh verdammte Muse? Sitzt du etwa geduldig an meiner Seite, nickst mir aufmunternd zu, hauchst mir Küsschen auf die dampfende Stirn, die diese wieder kühlen und auf Betriebstemperatur zurücksetzen sollen? Nein! Du Verlotterte treibst dich nächtelang irgendwo herum, man weiß nicht, wo genau, aber man hat so seine Verdachtsmomente.
Klar ist jedenfalls: bei mir nicht. Aber wenn nicht bei mir, wo dann?!
Was haben die, was ich nicht habe? Sind sie brutaler zu dir oder sanfter, erpressen sie dich emotional, beten sie dich an, schleimen sie sich ein, habt ihr eine lose On-off-Beziehung, so wie wir?
Was ich jetzt jedenfalls in meiner musenlosen Einsamkeit habe: austrocknende Schreibflüsse, gallertartige Ideenverklumpung, Geschichtennebel an leerer Birne und zu viel Puls statt Impuls im Herzen. Wenn es wenigstens eine Rotweinbirne wäre, aber, verflucht noch mal, ich vertrage gar keinen Rotwein. Nicht einmal verfaulte Äpfel würden mich jetzt retten, wenn sie musenlos faulend auf meinem Schreibtisch herumstehen würden. Faulend bin nun auch ich als eine Ganze! Wo also bleibst du, du Begehrte und Verdammte? War ich dir nicht ergeben genug? Zu unsexy? Zu zögerlich oder gar zu fordernd? Bist du meiner einfach überdrüssig geworden? Wir müssen reden.
Wir müssen sogar dringend reden! Ich weiß, ich weiß, wenn dieser Satz fällt, schauen die Adressierten meist darauf, sofort und mit Siebenmeilenstiefelgeschwindigkeit Fersengeld zu geben. Ich will ja keine Schmutzwäsche waschen. Obwohl diese bald zum Himmel stinkt. Ich will eh nur Erfüllung von dir. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Nur ein bisschen totale Inspiration. Nur ein wenig Verstiegenheit, sich euphorisch ganz kurz für großartig zu halten.
Toto oder Vielen Dank für das Leben
Uraufführung Ein bizarrer Roadtrip und eine bitterböse Coming-Of-Age- Geschichte: 1966 wird in einem ostdeutschen Kreissaal ein Baby ohne erkennbares Geschlecht geboren. Die Mutter entscheidet k... Weiterlesen...
Das hilft schon sehr, denn die meiste Zeit ist man als Kulturschaffende eher herniedergedrückt von der Angst, ganz und gar zu versagen. Aber Angst essen Seele auf und, noch viel schlimmer, auch den Text. Zu bedenken ist aber: Zweifel, meine sehr geehrten Damen und Herren, Zweifel ist für den Schöpfungsprozess sehr wichtig, und man sieht an der Geschichte der Menschheit, dass bei der Menschenschöpfung vielleicht zu wenig gezweifelt worden ist.
Das unterscheidet wohl das Göttliche von dem Allzumenschlichen. Aber wenn man so richtig gut schöpfen kann, wenn die Idee Wort wird, dann kommt man für Millisekunden an das Göttliche heran. Glaubt man. Bis zum nächsten Morgen. Dann sieht man sich das Geschaffene nämlich nochmal an und fragt sich, wie man solchen Schrott überhaupt in Erwägung ziehen konnte. Ich hoffe, dass das mit der Menschheitsschöpfung anders ist, aber, wie gesagt, ich habe da auch meine Zweifel. Ich habe meine Zweifel, und die vermaledeite Muse hat die ihren. Und schon ist da die Lerche und nicht die Nachtigall und die Nacht sinnlos verstrichen. Wo also bleibst du, Begehrte? Ich liebte dich sehr!
Ach was, ich liebe dich noch immer.